I.
Liebe Gemeinde,
der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im 4. Buch Mose, im Kapitel 21,4-9. Ich lese in der Übersetzung der BasisBibel:

4 Die Israeliten zogen vom Berg Hor weiter in Richtung Schilfmeer. Dabei nahmen sie einen Umweg um das Land Edom herum. Das Volk aber wurde auf dem langen Weg ungeduldig. 5 Die Israeliten beklagten sich bei Gott und bei Mose: »Wozu hast du uns aus Ägypten herausgeführt? Sollen wir in der Wüste sterben? Nicht einmal Brot und Wasser gibt es hier. Wir ekeln uns vor dem schlechten Essen!« 6 Darauf schickte der Herr Giftschlangen zum Volk. Viele Israeliten wurden gebissen und starben. 7 Das Volk kam zu Mose und bat: »Wir haben Unrecht getan, als wir so mit dem Herrn und mit dir geredet haben. Bete zum Herrn, dass er die Schlangen von uns fortschafft!« Daraufhin betete Mose für das Volk.
8 Der Herr antwortete Mose: »Fertige eine Schlange aus Bronze an und stecke sie auf ein Feldzeichen. Jeder, der gebissen wurde, soll sie ansehen. Dann wird er am Leben bleiben.« 9 Da machte Mose eine Schlange aus Bronze und steckte sie auf ein Feldzeichen. Und tatsächlich: Wer gebissen wurde und die Bronzeschlange ansah, blieb am Leben.

II.
»Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.« Amen.

Liebe Gemeinde,
in unserem Predigttext geht es heute also um Schlangen, um Gift-Schlangen, die die Israeliten plagen. 40 Jahre zuvor haben sie Ägypten verlassen. Die wenigsten Erwachsenen sind noch am Leben. Denn 40 Jahre – das war damals eine Generation. Von dem Führungstrio der Befreiung aus Ägypten lebt nur noch Mose. Seine Schwester Mirjam ist kurz vorher gestorben. Und auch von dem älteren Bruder Aaron musste sich Mose verabschieden. Und er selbst weiß, dass er das Gelobte Land zwar noch von Weitem sehen, es aber nicht mehr betreten wird; auch seine Tage sind gezählt.

Es ist also eine Zeit des Übergangs, eine quälende Zeit. Die Jahre in der Wüste waren voller Entbehrung. Es blieb immer die Sorge, Wasser zu finden und ausreichend Nahrung. Manna, Wachteln und Wasser aus dem Felsen waren die Wunder, von denen man erzählte. Es gab aber auch die Erinnerung der Älteren an den Speiseplan in Ägypten: Fisch, Fleisch, Gurken, Melonen, Zwiebeln und Knoblauch – davon konnte man in der Wüste allenfalls träumen. Und zu alledem kam noch hinzu, dass das Volk gerade eine schlimme Erfahrung gemacht hatte:
Der König von Arad wollte die Ansiedlung der Israeliten im verheißenen Land verhindern. Er griff die unvorbereiteten Israeliten an und nahm einige von ihnen als Geiseln gefangen. Wieder muss ein Wunder beschworen werden. Gott gibt schließlich den König und dessen Leute in die Gewalt der Israeliten. Sie bereiten den Gegnern und ihren Städten den Untergang. Deswegen erhält der Ort den Namen ›Chorma‹, was so viel bedeutet wie »der Vernichtung geweiht«.

Erschrocken war ich bei der Predigtvorbereitung, als ich bemerkte, dass man für ›Chorma‹ auch den Namen ›Gaza‹ einsetzen könnte. Wir haben die schrecklichen Bilder vom 7. Oktober vor Augen: den Überfall der Hamas auf Israel und die anschließende Bombardierung der Städte im Gazastreifen.
Mit diesem aktuellen Bezug können wir uns vorstellen, was Überfall, Geiselnahme und Vergeltung mit den Israeliten unter Mose gemacht haben. Nach 40 Jahren in der Wüste haben sie immer noch keinen Ort gefunden, wo sie dauerhaft bleiben können. Sie werden überfallen und wissen nicht, was mit den gefangenen Geiseln geschehen ist. Sie greifen selbst zur Waffe und werden schuldig an der Auslöschung einer ganzen Stadt. Auch wenn Gott dazu die Erlaubnis gegeben haben sollte, so bleiben doch die Bilder in den Köpfen: von den eigenen Verlusten und von dem, wozu man selbst imstande war. Bilder von der Angst um die eigenen Leute und von dem Drang, Gewalt mit Gewalt zu beantworten.
III. Liebe Gemeinde,
heute würde man dem Volk Israel in der Wüste eine posttraumatische Belastungsstörung bescheinigen: Sie werden überfallen und in Kriegshandlungen verwickelt. Sie sind schon 40 Jahre auf der Flucht und können noch immer nicht in das von Gott versprochene Land. Obendrein versperren ihnen jetzt die Edomiter den Weg. Sie müssen zurück Richtung Schilfmeer – dorthin, wo die Flucht aus Ägypten ihren Ausgang genommen hatte. Frustriert und unzufrieden hadern sie mit ihrer Situation. Sie machen Gott und Mose Vorwürfe:
»Wozu hast du uns aus Ägypten herausgeführt? Sollen wir in der Wüste sterben? Nicht einmal Brot und Wasser gibt es hier. Wir ekeln uns vor dem schlechten Essen!«
Zur postraumatischen Belastungsstörung gesellt sich jetzt ein depressiver Grundzug: Alles Bisherige war vergeblich. Es fehlt an grundlegenden Dingen. Nicht einmal das Essen schmeckt.
Heute würde man solchen traumatisierten Menschen raten, zu einem Therapeuten / zu einer Therapeutin zu gehen. Denn die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung können sich verschlimmern – bis hin zu dem Gefühl, die Situation der Todesangst und der Hilflosigkeit noch einmal zu durchleben. Diese ständige Alarmbereitschaft kann sich auch körperlich auswirken, etwa durch Zittern oder Herzklopfen oder durch panische Reaktionen. Traumatisierte sind anfälliger für Krankheiten oder Infektionen, und die Sterblichkeit ist deutlich erhöht.
Ich kann dazu ein Beispiel aus meiner Familiengeschichte erzählen: In der guten Stube meiner Großmutter hing ein Bild über dem Türrahmen. Es zeigte meinen Großvater in Wehrmachtsuniform. Er war mehrere Jahre als Soldat im Krieg. Bevor es an die Front ging, wurde in vielen Familien noch ein Foto gemacht: der Mann in Uniform und daneben die Ehefrau, damit es während der Zeit im Krieg oder im Todesfall wenigstens eine Erinnerung vom Ehemann gab.
Mein Großvater hat den Krieg überlebt und kehrte nach kurzer Gefangenschaft auf einigen Umwegen zurück. Meine Großmutter berichtete, dass er danach plötzlich wie aus heiterem Himmel aus seiner Haut fahren konnte. Bei einer Gelegenheit hatte er auf diese Weise das auf dem Tisch angerichtete Porzellan-Geschirr der Familie zerstört. Danach sackte er in sich zusammen und konnte nicht fassen, was gerade passiert war.
Unzählige Male hat meine Großmutter diese Geschichte erzählt und danach berichtete sie, wie die Nachbarn meinen Großvater kurze Zeit später tot nach Hause gebracht haben. Er ist einfach bei der Arbeit umgekippt, plötzlich und unerwartet an Herzversagen gestorben – im Alter von 55 Jahren. Vom Krieg hat er zuhause kaum etwas erzählt.
In vielen Familien war es nach dem Krieg ähnlich: Männer und Frauen, die schwere Gewalt erlebt oder ausgeübt haben, kommen aus dem Krieg verändert zurück. Über das Erlebte wird nicht gesprochen. Stattdessen gibt es Depressionen, Alkoholmissbrauch und Angststörungen. Und in manchen Fällen auch den plötzlichen Tod, weil Körper und Seele das alles nicht mehr tragen können.

IV.
Liebe Gemeinde,
das stand mir vor Augen, als ich über die Israeliten in der Wüste nachdachte, über ihre dauerhafte Flucht, die traumatischen Kriegserfahrungen und die völlige Unzufriedenheit:
»Wozu hast du uns aus Ägypten herausgeführt? Sollen wir in der Wüste sterben? Nicht einmal Brot und Wasser gibt es hier. Wir ekeln uns vor dem schlechten Essen!«
In unserem Predigttext heißt es dann weiter, dass plötzlich Giftschlangen auftauchen. Viele Israeliten werden gebissen und sterben.
Man kann hinter diesen Giftschlangen die schwarz-nackige Kobra vermuten, die in der Wüstenregion heimisch ist.
Für mich sind die Schlangen jedoch ein Symbol dafür, was mit den traumatisierten Israeliten und Israelitinnen in der Wüste passiert:
Bei den Giftschlangen ist es so, dass sie sich tagsüber vergraben in Erdlöchern; man bekommt sie selten zu Gesicht. Aber in der Nacht werden sie aktiv und greifen an. Sie gelten als listig, verschlagen und heimtückisch. Obwohl sie sich nur langsam am Boden kriechend fortbewegen, sind sie machtvolle Geschöpfe. Denn das Gift verleiht ihnen Macht über Leben und Tod.
Und so ist es auch mit posttraumatischen Belastungsstörungen. Sie wirken schleichend, manchmal unbemerkt, rauben einem den Schlaf, können unbehandelt zum vorzeitigen Tod führen.

V.
Jetzt erzählt unser Predigttext aber, dass Mose mit Hilfe Gottes ein Gegenmittel findet. Und das sollten wir uns nun genauer ansehen.

Schützen konnte man sich damals vor Schlangenbissen nur durch feste Kleidung, unzugängliche Schlafplätze oder Gerüche bestimmter Pflanzen, die die Schlangen fernhielten. Wer einmal gebissen wurde – vor allem Schwächere – hatten nur eine geringe Überlebenschance; teures Immun-Serum gab es in biblischen Zeiten noch nicht.

Moses Mittel gegen die Schlangenbisse oder – wie ich es verstehen will: gegen das Schlangentrauma – hat drei Stufen:
Die ersten beiden Schritte, die nötig sind, sprechen die Israeliten selber aus. Sie erkennen, was für eine verheerende Wirkung das Schlangentrauma hat. Sie sagen zu Mose:
»Wir haben Unrecht getan, als wir so mit dem Herrn und mit dir geredet haben. Bete zum Herrn, dass er die Schlangen von uns fortschafft!«
Der erste Schritt ist also, zu erkennen, dass die Auswirkung des Traumas die Falschen getroffen hat. Meine Großmutter z.B. – sie kehrte die Scherben in der Küche auf und fragte sich immer wieder, was sie wohl falsch gemacht haben könnte.
In unserer Geschichte ist es Mose, der den Frust und die Verbitterung der Israeliten zu spüren bekommt.
Indem die Israeliten erkennen, dass ihr Frust am falschen Platz gelandet ist, machen sie den ersten wichtigen Schritt. Sie erkennen ihr Unrecht und sprechen mit dem Betroffenen darüber.

Und der zweite Schritt ist dann, Hilfe von außen zu suchen. In diesem Fall bitten die Israeliten Mose, Gott möge das Schlangentrauma beenden. Dieses »Hilf mir, ich schaffe es nicht allein!« ist ganz wesentlich für die Bewältigung des Traumas.

VI.
Mose und Gott haben die Bitten der Israeliten gehört. Diese sind durch die dauernde Flucht und den Hunger verzweifelt sowie durch die Kriegserlebnisse traumatisiert. Die schleichenden Giftschlangen sind dafür ein Symbol. Reihenweise kommt es zu Todesfällen.
Wie sieht nun das Gegengift aus, dass Gott Mose an die Hand gibt?
Pragmatisch könnte er den Israeliten den Rat geben, immer nach unten zu schauen, die Schlangen im Blick zu behalten und vor allem nachts vor den Schlangenbissen gewappnet zu sein.
Doch diese Maßnahmen hätten das Trauma nur noch schlimmer gemacht. Es wäre so, als hätte jemand meinem Großvater gesagt, er möge sich zur Entspannung einen Kriegsfilm anschauen.
Stattdessen sollen die Israeliten den Blick nach oben  richten. Unten lauert die Gefahr, aber sie sollen nach oben blicken.
In der Psychologie nennt man das eine paradoxe Intervention – wenn man genau das macht, wovor man am meisten Angst hat.
Sie kennen vielleicht die Therapie bei Angst vor Spinnen. Die Patient*innen schauen sich Bilder von Spinnen an, nähern sich ihnen und berühren sie sogar. Meistens reichen nur wenige Stunden, um die Angst wieder loszuwerden. Die Krabbeltiere haben dann keinen Einfluss mehr auf die Gedanken und die Gestaltung des Alltags.
Jetzt ist es aber nicht so, dass die Israeliten geradewegs durch Schlangen-Nester hindurchlaufen sollen. Und ich meine, dass es in unserem Predigttext auch gar nicht um tatsächliche Schlangen geht, sondern um das Schlangentrauma – um die posttraumatische Belastungsstörung. Ich denke, es geht nicht um reale Giftschlangen, sondern um Schlangen, die im Kopf ihr Gift verspritzen.
Und deshalb soll Mose die Köpfe der Israelit*innen behandeln:
Nach oben gucken also. Und da, wo sie hingucken, soll Mose eine Schlange aus Bronze auf ein Feldzeichen stecken. Und die Verheißung dazu lautet:
»Jeder, der gebissen wurde, soll die [bronzene Schlange] ansehen. Dann wird er am Leben bleiben.«
Gott rät also zur paradoxen Intervention: Nicht dauernd nach unten auf die Gefahr gucken, sondern nach oben. Und dort sehen die Israeliten das, was ihr Trauma ausgelöst hat: ein Feldzeichen, wie es im Krieg gebraucht wird, und eine bronzene Schlange, als Symbol für das, was in ihren Köpfen kreist.
Sie blicken also ihrem Trauma direkt ins Gesicht und bewegen dabei Kopf und Augen von unten nach oben.

Und genau das wird heute bei der Trauma-Therapie angewendet. Man nennt diesen Ansatz EMDR-Methode.1 Auf Deutsch bedeutet EMDR: »Desensibilisierung und Verarbeitung durch Augenbewegungen«. Der Ansatz ist der, dass ein Betroffener sich das traumatische Erlebnis vorstellt und ein Therapeut den Patienten bittet, währenddessen auf seinen Finger zu gucken, der sich langsam bewegt. Auf diese Weise kommt es zu einer geteilten Aufmerksamkeit, und das Erlebte kann besser verarbeiten werden. Die Therapeut*innen haben damit erstaunliche Erfolge.
Genau das macht Mose mit der bronzenen Schlange auf dem Feldzeichen. Die Israeliten sehen die Symbole ihres Traumas und bewegen die Augen von unten nach oben. Auf diese Weise bearbeiten sie ihr Trauma. Das Gift der Schlange ist nicht mehr tödlich.

VIII.
Liebe Gemeinde,
gestern war der Jahrestag des Einmarsches der russischen Truppen in die Zentralukraine. Wir haben viele Bilder gesehen von Gewalt, Flucht und Hass. Über eine Millionen Ukrainer*innen leben in Deutschland; viele von ihnen sind traumatisiert. An unserem Predigttext haben wir gesehen, wie schwerwiegend das sein kann und wie nötig es ist, mit diesem Wahnsinn aufzuhören.
Auch wir merken die Unruhe, die in uns aufsteigt, wenn wir an die vielen ungelösten politischen Fragen denken, die mit dem Ukraine-Krieg zusammenhängen. Ein Mose würde uns guttun, der direkten Kontakt zu Gott hat und uns das Mittel zeigt, wie wir immun werden gegen das Gift der Schlange. Mose haben wir nicht zur Verfügung. Aber ein Mittel kennen wir. Es sind die Worte Jesu aus der Bergpredigt, mit denen ich schließen will:

4 Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.
5 Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. 6 Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. 7 Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. 8 Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. 9 Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen. 10 Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich. Amen.