Liebe Gemeinde,

gerne wird gesagt, in einem evangelisch-reformierten Gottesdienst sei die Predigt das Wichtigste.
Wenn das dann theologisch begründet werden soll, wird oft der Heidelberger Katechismus zitiert, Frage 103:

Was will Gott im vierten Gebot?
Dass ich, besonders am Feiertag, zu der Gemeinde Gottes fleißig komme. Was heute ja durchaus klargeht...liegt es an der späteren Uhrzeit?

Dort soll ich 1) Gottes Wort lernen, 2) die heiligen Sakramente gebrauchen, 3) den HERRN öffentlich anrufen und

4) in christlicher Nächstenliebe für Bedürftige spenden.

 Ist das auch eine Rangfolge? Ich meine: nein.

Es sind die vier elementaren Bestandteile, die einen Gottesdienst ausmachen. Und mit dem erstgenannten, Gottes Wort lernen, geht es auf unterschiedliche Weise. Manchmal durch das Hören einer Predigt, immer durch das Singen von Psalmen.

Zu Himmelfahrt vor 3 Jahren nahmen wir nach sieben Wochen ohne Live-Gottesdienste das fleißige Kommen zur Gemeinde Gottes am Feiertag wieder auf. Und mit mir war da etwas passiert. Ich hatte nur wenig das Predigthalten oder Predigthören vermisst.

Viel stärker das öffentliche Anrufen Gottes, das Gebet.

Das gemeinsam laut gesprochene Vaterunser!

Und ich finde es höchst spannend, dass es dem Apostel, der an Timotheus schreibt, ebenso geht.

Seine Ratschläge zum rechten Gottesdienst beginnen weder mit Sakrament noch mit Predigt, sondern mit diesem allerersten Vers zum Gebet: Insbesondere bitte ich euch nun, vor Gott einzutreten für alle Menschen in Bitte, Gebet, Fürbitte und  Danksagung.

Wir haben gehört, wie es im Text weitergeht – ich will mich heute auf diesen ersten Vers konzentrieren.

Vor Gott für Menschen eintreten, für sie beten, verändert das tatsächlich etwas? Im Konfirmandenunterricht habe ich vor

einigen Jahren einmal dieses Experiment gewagt.

Und alle Konfis gebeten: Sucht jemanden aus, der euch am Herzen liegt. Betet einen Monat lang möglichst jeden Tag für diesen Menschen. Und bei unserem nächsten Treffen berichtet, wie es euch damit erging! Ein Junge erzählte dann ziemlich aufgeregt: Er habe für seine kranke Oma im Pflegeheim gebetet, jeden Abend. Es gehe ihr leider noch immer nicht besser. Doch für ihn selbst habe sich durch die regelmäßige Fürbitte etwas verändert. Es habe ihn verändert, seiner Oma näher gebracht. Sie würde sich jetzt noch mehr freuen, wenn er sie einmal die Woche besuchen käme.

Mit zwei Worten gesagt: Beten verbindet!

Im Vorgespräch zum Predigttext am Dienstag zitierte Kollegin Grace einen Satz aus ihrem Heimatland Indonesien:

Das Gebet ist der Atem der Gläubigen.

Mir kam zuhause noch ein ähnlicher Satz von Bonhoeffer vor Augen. Den fand ich im „Brief an einen Jugendlichen“ aus dem Jahr 1928. Der Schreiber selbst war damals gerade 22 Jahre alt:

Die Kraft des Menschen ist das Gebet.

Beten ist Atemholen aus Gott,

Beten heißt sich Gott anvertrauen.

Ich bin meiner verstorbenen Mutter dankbar, dass sie, als ich ein Kind war, mit mir abends gebetet hat. Ja, angebetet hat gegen alle meine Ängste. Hotzenplotz könnte unter dem Bett liegen, oder ein riesiger Greifvogel aus dem Türchen meiner Kuckucksuhr fliegen. Nein! Gott ist doch da!

Ich bin klein, mein Herz ist rein. Den zweiten Satzteil sah ich schon damals kritisch, glaube ich...

Dann geht es ja weiter: Soll niemand drin wohnen als Jesus allein. Kindgemäßer ist sie kaum zu übersetzen, die Antwort auf Frage1 des Heidelbergers: Was ist dein einziger Trost?

Später hatte mein Herz auch allerhand andere Bewohner, aber ein Urvertrauen blieb. Es war durch das kindliche Abendgebet fest begründet. Das Thema Beten zog sich dann durch mein Leben wie ein roter Faden Gottes. Als ich am 4. Advent 1987 auf dieser Kanzel meine Examenspredigt hielt, wurde mir der Text vorgegeben. Von LS Walter Herrenbrück aus Leer. Aus Philipper 4, in der schönen alten Luther-Übersetzung: Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen!… Sorget nicht, sondern in allen Dingen lasst eure Bitten in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden.

Dann kommt, ein paar Monate später, das Thema für die Konfirmandenunterrichts-Prüfung. Post von Alfred Rauhaus, auch aus Leer, Thema natürlich wieder Gebet. Psalm 13 wurde in verschiedenen Gesten mit den armen Konfis durchgekämpft, von empörter Klage (Herr, wie lange?) bis zum festen Gottvertrauen.

Dazu möge ich bitte Heidelberger Frage 116 reflektieren!

Die habe ich gerade eben ja noch einmal laut gelesen...

Es ging weiter. Für den 17. Juni 1989, unseren Hochzeitstag in dieser Kirche, hast du, lieber Freund Peter aus Berlin, auch einen Philipper-Vers (1,9) ausgelegt! Paulus schreibt:

Ich bete darum, dass eure Liebe immer noch reicher werde an Erkenntnis und aller Erfahrung.

Damals hast du, geschätzter Kollege Berend, dich darüber ein wenig ereifert: „Das habt ihr euch ausgesucht? Ist das nicht ziemlich unverschämt? Eure Liebe ist doch jetzt schon überreich, ihr strahlt über alle acht Backen“, meintest du leicht ironisch mit feinem Grafschafter Humor...

Ich sage euch, dieser Vers wurde uns sehr wichtig und mit ihm Fürbitte und Gebet. Besonders in unseren ersten 3 Jahren wieder hier in Hannover. Nach 22 Jahren Göttingen. Das Umtopfen hat seine Zeit gebraucht. Diesen Vers aus dem Wort Gottes haben wir wirklich gelernt.

So, nun ist es aber gut mit Biografie.

Zurück zum mir heute sicher nicht zufällig aufgegebenen Rogate – Predigttext: Vor Gott eintreten für alle Menschen.

Das Buch Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext ist mir oft eine große Hilfe für die Vorbereitung einer Kanzelrede. Nun gab der Verfasser für diesen Sonntag eine harte Nuss zu knacken. Überschrieb seine vielen Gedanken mit dem Untertitel

Gebet für Wladimir Putin.
Und erwähnt dazu einen russischen Film aus den achtziger Jahren.
Da gibt es eine Szene, in dem ein jüdischer Partisan ein Hitler-Bild zerschießt. Mit filmischen Mitteln wird das verhasste Portrait unter Beschuss immer jünger. Am Ende lähmt das Kindergesicht des späteren Diktators dem Schützen seinen Finger am Abzug. Irgendwie eindrucksvoll, aber in diesem Zusammenhang auf fast schmerzhafte Weise kitschig, oder?
Soll ich mir jetzt Wladimir Putins Kindergesicht vorstellen? Und so für ihn beten? Und geht es überhaupt nur um diesen einen schlimmen Mann? Der für uns hier im Nahen Westen der alleinige Obersündenbock auf Erden geworden ist? Das ist so bequem...
Aber wie nun? Der Apostel spricht vom Eintreten für alle Menschen vor Gott. Diese positive Universalität wiederholt sich im weiteren Text noch zweimal. Vers 4 war 1980 Jahreslosung:

Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.

Liebe Gemeinde, damit sind auch wir gemeint. Die wir ein 100-Milliarden-Sonderprogramm für die Bundeswehr mitverantworten. Immerhin 5 Prozent der laut Stockholmer SIPRI-Institut weltweit 2 Billionen Euro Rüstungsausgaben für das letzte Jahr! Wird uns diese gesellschaftliche Anstrengung zur Wahrheit führen, zum wahren Frieden? Ich frage ja nur…

Liebe Gemeinde, eine glasklare Antwort habe ich nicht per Predigt. Ich weiß um die Sogkraft realpolitischer Logik.
Ich meine allerdings, dass wir als jüdisch-christlich geprägte Gemeinschaft noch etwas ganz anderes danebenzustellen haben.
Keine andere Logik, aber vielleicht das Offenhalten eines neuen Exodus. Raus aus der Kriegslogik, die Gottes Wahrheit verfehlt.
In China gibt es ein Sprichwort: Wer nichts mehr hat, hat immer noch Tee. Ich wandle das jetzt ab: Wer keine guten Antworten hat, wenn die Friedenshoffnungen abhandenzukommen drohen, der kann immer noch beten. Tun wir das oft und drängend genug?

Da ist noch sooo viel Luft nach oben...Gott hat doch gewiss noch himmlische Möglichkeiten, auch für die orthodoxe Kirche!

Es gab einmal eine Zeit am Ende der DDR, da waren Gebete ansteckend. Und haben verhärtete Politiker beeindruckt. Neben den Kerzen. Wer betet und seine Hände faltet, kann nicht zeitgleich immer neu Waffen liefern oder selbst schießen...

Fangen wir nun zum Ende der Predigt hin mit dem Danken an!

Danksagung ist das letzte Wort des 1. Verses aus 1. Timotheus 2.

Wir waren vor genau einem Monat mit 19 Gemeindemenschen voller Frühlingssehnsucht in Rust am Neusiedler See. 300 Tage Sonne im Jahr verspricht dort die Werbung. Wir sahen die Sonne nicht. Es regnete zwei Tage lang in einer Tour. Gewölbekeller statt Stadtführung. Am Vorabend Weinprobe in Mörbisch mit einem stabilen Dach über dem Kopf. Wir lamentieren über das Wetter. Das Winzerehepaar Elfi und Gerhard Fiedler strahlt uns dagegen an. Sie lehren uns Gottes Wort: „Kennt Ihr 1. Mose 8, Vers 22? Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht!

Unser Gott macht dieses Versprechen gerade wahr.

Freut euch mit uns und für den Wein, wir hatten fast zwei Jahre lang kaum Regen!“

So legen wir unseren Schalter um: Vom Klagen zum Mitfreuen. Das soll - bitte, HERR, hilf und schmeiß' Hirn vom Himmel! - auch mit dem Frieden eines Tages so werden.

In der so geschundenen Ukraine, im Nahen Osten, in Eritrea – und  in den Vereinigten Staaten, der weltgrößten Waffenschmiede.

Der bereits erwähnte Dietrich Bonhoeffer hat uns noch einen guten Merksatz zum Gebet mitgegeben:

Gott erfüllt nicht alle unsere Wünsche, aber alle seine Verheißungen.

Sein Reich wird kommen, das ist gewiss!

Schließen wir mit dem Wunsch aus Philipper 4, Vers 7:

Gottes Friede, der weiter reicht als alle menschliche Vernunft, der wird unsere Herzen und Sinne bewahren in Christus Jesus. Amen.