»Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.« (Röm 1,7) Amen.
I.
Liebe Gemeinde,
im letzten Jahr ist Heide Simonis gestorben. Sie war Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein. 12 Jahre war sie schon in dem hohen Amt, und sie sollte 2005 im Landtag erneut zur Ministerpräsidentin gewählt werden.
Es fehlte ihr am Ende aber eine einzige Stimme. In allen vier Wahlgängen scheiterte sie. Einer aus den eigenen Reihen hatte ihr die nötige Stimme vorenthalten.
Ob Geld geflossen ist, ob Eitelkeiten im Spiel waren, Erpressung oder alte Rechnungen beglichen wurden, das ist bis heute ungeklärt. Auf jeden Fall wurde Heide Simonis an diesem Tag politisch demontiert. Ihre Partei hat in Schleswig-Holstein deutlich an Zuspruch verloren. Und der Verrat aus den eigenen Reihen wird erst dann zur Ruhe kommen, wenn keiner der damals Beteiligten mehr im Landtag vertreten ist.

Einige Kommentatoren des Kieler Wahldebakels ereiferten sich über den Umstand, dass Heide Simonis ausgerechnet durch die eigenen Leute gestürzt wurde. Doch genau betrachtet ist es vielfach so, dass die größte Gefahr nicht von außen droht – von der Konkurrenz oder der Opposition. Ein Machtverlust wird nicht selten in den eigenen Reihen vorbereitet:

Helmut Kohl z. B. wäre im September 1989 beinahe durch Heiner Geißler, Rita Süssmuth und Kurt Biedenkopf gestürzt worden; sie wollten Lothar Späth zum neuen Bundeskanzler machen. [Nur die Ausreisegenehmigung für die in Ungarn festsitzenden DDR-Bürger rettete Kohl damals die Kanzlerschaft.]


Liebe Gemeinde,
im heutigen Predigttext wird uns ein anderer Fall von Bedrohung aus den eigenen Reihen geschildert. Ein Fall, der anders als bei Heide Simonis nicht zum politischen Tod führt. Sondern er führt zur Auferstehung des Betroffenen und der von ihm begründeten Bewegung.
Und deshalb möchte ich heute nicht so sehr auf den Verrat durch einen der Jünger eingehen, sondern auf die Frage, warum Jesus trotz des Verrats aus den eigenen Reihen nicht gescheitert ist – im Unterschied zu dem genannten Beispiel aus Schleswig-Holstein.
Sehr schnell könnte man darauf hinweisen, dass der Verrat ja von Gott und Jesus einkalkuliert war, um gemäß der Schrift Kreuz und Auferstehung zu ermöglichen. In unserem Predigttext wird diese Lösung auch kurz angedeutet, wenn Jesus vom vorgezeichneten Leidensweg des Menschensohnes spricht (V. 22). Und an anderen Stellen kommt noch deutlicher zum Ausdruck, dass der Verrat zum Plan dazugehörte. Doch das ist im Lukasevangelium eine theologische Deutung, die mehrere Jahrzehnte nach den Ereignissen aufgeschrieben wurde.
Und dass Gott seinen Sohn absichtlich ans Kreuz gebracht haben soll, ist ein schwieriger Gedanke. Dies wurde in der Theologie schon immer kritisch gesehen.
In unserem Predigttext sagt Jesus seinen Jüngern nämlich nicht: »Keine Sorge, das ist Gottes Plan, alles wird gut«, sondern zunächst verweist er auf den Abgrund des Verrats:
»Wehe dem Menschen, der den Menschensohn verrät!«
Jesu Lösung für die unerträgliche Situation am Abend vor seiner Verhaftung ist zunächst eine andere.

III.
Bevor ich darauf näher eingehe, möchte ich diese bedrückende Situation am Abend in Jerusalem genauer betrachten.
Zunächst einmal fällt auf, dass Judas beim Abendmahl selbst nicht ein einziges Mal erwähnt wird. Es geht nicht um den Verrat eines Einzelnen, sondern um Krise und Misstrauen der inneren Gruppe um Jesus. Es ist die Gruppe der Zwölf, die zusammen mit anderen Gästen das Passahmahl in Jerusalem feiert. Diese Gruppe der Zwölf zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit Jesus in dieselbe Schüssel eintaucht (V. 20). Der Abstand beträgt also wenige Armlängen. Ein Abstand, an den Menschen einander nur lassen, wenn von dem anderen keine Gefahr ausgeht oder um ihn genauer zu beobachten. Jesus erfasst die im Raum stehende Verunsicherung und spricht sie offen an: »Seht euch vor: Einer wird mich verraten. Er sitzt hier mit mir am Tisch.«
Die Wirkung dieser Worte ist vergleichbar mit der Verkündung des ersten Wahldurchgangs im Kieler Landtag: 34 zu 33 Stimmen, 1 Enthaltung. Einer aus der Fraktion der SPD hatte mit seiner Stimmenthaltung die noch amtierende Ministerpräsidentin dem Spott der Leute ausgeliefert. Alle sind entsetzt, einige schauen betreten zu Boden. Alle sind verdächtig. Denn einer von ihnen hat erahnen lassen, welche verborgene Macht in ihm steckt. Würde er auch im 2., 3. und 4. Wahlgang den Verrat an seiner Parteikollegin wiederholen und damit ein politisches Erdbeben auslösen?

In Jerusalem dementieren die Jünger – eine Person nach der anderen. »Doch nicht ich«, sagen sie. Aber Jesus nennt keinen einzelnen Namen, er verweist auf die, die in seiner unmittelbaren Nähe sind, und nennt dann die Zahl zwölf:
»Einer von euch Zwölfen, der mit mir in die Schüssel eintaucht.«
Der Abgrund des Verrats ist also zum Greifen nah; er vergiftet das gemeinsame Mahl. Jesus weiß, dass er mit den Zwölfen an diesem Abgrund steht, dass der Abgrund unausweichlich ist. Und ein voreiliges »Gott will es so« hätte den Abgrund der Verunsicherung nur noch weiter geöffnet.

IV.
Die SPD in Schleswig-Holstein weiß bis heute nicht, wer der Verräter oder die Verräterin war. Keiner hat in seiner Verzweiflung den Weg der Selbsttötung gewählt – wie Judas. Keiner hat einen Hinweis gegeben, dass er der gesuchte Abweichler ist, der heimtückische ›Heidemörder‹, wie er bald in der Presse genannt wurde. Keiner vermag bis heute in dem Geschehenen einen höheren Sinn zu entdecken. Die Landespartei hat seitdem nicht zur alten Stärke zurückgefunden und musste sich meistens mit der Rolle der Opposition begnügen. (Pause)
→ Anders in Jerusalem: Und damit komme ich nun zu der Frage, wie Jesus es geschafft hat, die Jünger für die Zeit nach dem Verrat vorzubereiten, sie gegen die innere Zersetzung zu immunisieren.
Dass die Gefahr dazu bestand, zeigen andere Nachrichten aus den Evangelien: Die Jünger zanken sich über einzelne Worte Jesu. Es gibt Rangstreitigkeiten unter ihnen. In Gethsemane verschlafen sie in der Nacht des Verrats und stehen Jesus nicht bei. Selbst Petrus verleugnet dreimal seine Zugehörigkeit zum Kreis der Jünger.
Jesus hatte genau dies Petrus prophezeit und wusste, worauf er seine Jünger und Jüngerinnen vorzubereiten hatte.
Für die Zeit seiner Abwesenheit musste er Vorsorge treffen, damit der Kreis der Jünger nicht auseinanderbricht.
Jesus tut dies, indem er an zwei alte Erinnerungen Israels anknüpft – an den Abend vor dem Auszug aus Ägypten und an den Bundesschluss am Sinai.

[1.] Die erste Erinnerung ist das Passahmahl, das Jesus an dem Abend mit seinen Jüngern in Jerusalem feiert. Das Passah erinnerte daran, dass Gott sein Volk gegen den Willen des Pharao aus der ägyptischen Gefangenschaft befreit hat. Zehn Plagen ließ Gott über das Land kommen. Und erst bei der letzten Plage – dem Sterben der Erstgeborenen – ließ der Pharao die Israeliten ziehen. Um sich vor dieser letzten Plage zu schützen, sollten die Israeliten ein Lamm schlachten und dessen Blut an ihre Türpfosten streichen; der Todesengel würde dann an ihrem Haus vorbeigehen. Von daher bekam das Fest seinen Namen: Passah – was so viel bedeutet wie »vorbeigehen, verschonen«.
Jedes Jahr, wenn Juden und Jüdinnen das Passahlamm essen mit ungesäuertem Brot, Wein und Bitterkräutern, dann vergegenwärtigen sie, wie Gott ihre Vorfahren verschont und dann aus der Gefangenschaft herausgeführt hat.

[2.] Die zweite Erinnerung betrifft den Bundesschluss am Sinai: Nach dem Auszug aus Ägypten errichtete Mose am Sinai einen Altar mit je einem Stein für die zwölf Stämme Israels. Er bespritzte zuerst den Altar mit Blut von einem Opfertier und dann auch die Israeliten, um den Empfang der Zehn Gebote und den Bund Gottes mit Israel zu besiegeln: »Siehe«, sagte Mose, »das ist das Blut des Bundes, den der Herr auf alle diese Worte mit euch geschlossen hat.« (Ex. 24,8).

Das Passahmahl und der Bundesschluss am Sinai – diese beiden Erinnerungen stehen im Raum, als Jesus an die Aufgabe geht, seine Freunde auf das Kommende vorzubereiten. (Pause)
Jesus lässt es gewissermaßen nicht bis zum vierten Wahlgang kommen. Und er versucht auch nicht, den Verräter zu enttarnen. Jesus hält sich nicht für unabkömmlich, sondern bereitet seine Jünger vor auf die Zeit ohne ihn.
Und hier sieht er zwei Gefahren:
eine Gefahr von außen und
eine Gefahr von innen.

a. Die äußere Gefahr bestand in der Verfolgung durch religiöse Instanzen. Und zugleich waren da die Römer, die das Land besetzt hielten und empfindlich auf jede Form von Aufbegehren reagierten. Jesu Verkündigung war religiös und politisch verdächtig. Und seine öffentliche Verurteilung musste seine Jünger in große Schwierigkeiten bringen. Deshalb war das von Jesus und seinen Jüngern gefeierte Passahmahl wie das erste Passahmahl in Ägypten ein Mahl in großer äußerer Bedrängnis. Und zugleich war es ein Hoffnungsmahl für die Bewahrung in dieser Not und für die Befreiung daraus: So wie die Israeliten ihre Türpfosten zum Schutz vor dem Verderben mit Blut bestrichen hatten, so reicht Jesus jedem von ihnen den Becher. Und, nachdem alle getrunken haben, sagt er
»Das ist mein Blut (…), das für viele vergossen wird.« (V. 24).
Im Kontext des Passahmahls konnten die Jünger das verstehen als ein Schutzzeichen für die bevorstehenden Bedrängnisse. Als ein Hoffnungszeichen dafür, dass die Gefahr vorübergehen wird. Dass der bedrohlichen Nacht ein Morgen folgen wird auf dem Weg ins Gelobte Land. Und Jesus macht deutlich, wo dieses Gelobte Land liegt – in Galiläa. Dorthin wird er seinen Jüngern nach der Auferweckung vorauseilen.

b. So weit die äußere Gefahr, der Jesus mit der Kraft der Passah-Erinnerung begegnet. Aber noch größer ist die Gefahr von innen: das Versagen, das Misstrauen, die Machtkämpfe, die fehlende Orientierung. Jesus beugt diesen Gefahren vor, indem er den Verrat vorher angekündigt. Er nimmt ihm damit das Überraschungsmoment, das den Verrat so wirksam macht. Dieser Verrat, so Jesus, steht nicht im Dienst des Verräters oder seiner Auftraggeber, sondern hat sich dem vorgezeichneten Weg unterzuordnen.
Zum anderen macht Jesus deutlich, dass selbst die Nähe zu ihm nicht vor Verrat und Untreue schützt. Jesus verlangt von seinen Freunden nicht, dass sie moralisch oder religiös makellos sind. Denn schon vorher hatte Jesus immer wieder Sünder und Sünderinnen in seine Mahlgemeinschaft aufgenommen. Und dies sollte auch weiterhin gelten.
Um das zu bekräftigen, erinnert Jesus mit einer Zeichenhandlung an den Bundesschluss am Sinai: »Das ist mein Blut, das Bundesblut (Ex 24,8), das für viele vergossen wird.« (V. 24). Die Jünger konnten das verstehen als einen Neuen Bund, bei dem Jesus sie auf die Grundsätze seiner Verkündigung verpflichtete. Sie konnten es verstehen als Vorwegnahme des himmlischen Mahles, bei dem sie wieder mit Jesus vereint sein würden.

Liebe Gemeinde,
in Schleswig-Holstein hat die unvorhergesehene Bedrohung aus den eigenen Reihen tiefe Verunsicherung hinterlassen. 7 ½ Stunden dauerte die quälende Sitzung im Landtag mit den 4 ergebnislosen Wahlgängen. Diese 7½ Stunden haben die Partei von Heide Simonis traumatisiert. Auf Jahre hinaus blieb ein Neuanfang schwierig.
Anders verhält es sich bei den Jüngerinnen und Jüngern Jesu. Sie werden zwar durch den Verrat und den Tod Jesu auseinander geschleudert. Aber sie sind durch das von Jesus eingesetzte Abendmahl gegen die Gefahren von außen und von innen immunisiert. Jesus hat in der Nacht des Verrats mit seiner vorausschauenden Liebe vorgesorgt für die treu- und hilflosen Jünger. In dem Auferstandenen begegnet ihnen der, der vorausblickend seine Gegenwart in Brot und Wein verheißt, der das Gemeinschaftsmahl ›zu seinem Gedächtnis‹ stiftet und seine Gegenwart und die schöpferischen Kräfte in dieses Mahl einbindet. Durch das Abendmahl ermöglicht Jesus, dass seine Jünger und Jüngerinnen zu allen Zeiten, auch in Zeiten größter Not, die Gemeinschaft mit ihm und untereinander erneuern können. Mag die Bedrohung von innen und von außen noch so groß sein. Mag das Leiden sich über viele Wochen und Monate hinziehen.
»Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus.« Amen.