Der Predigttext für den heutigen Gottesdienst steht im 2. Buch Mose, Kapitel 33. Ich lese in der Übersetzung der Zürcher Bibel:

12 Mose sagte zum HERRN: »Du befiehlst mir: ›Führe das Volk in sein Land!‹, aber du hast mir nicht gesagt, wen du mitschicken wirst. Dabei hast du mir doch versichert, dass Du meinen Namen kennst und ich in deiner Gunst stehe. 13 Wenn das stimmt, dann bestätige es mir jetzt und sag mir, was du vorhast. Und vergiss nicht, dass diese Leute dein Volk sind!«

14 Der HERR erwiderte: »Mein Angesicht geht voraus, beruhigt dich das?« 15 Mose sagte: »Wenn du nicht mitgehst, wäre es besser, du ließest uns hier bleiben. 16 Woran sollen wir denn erkennen, dass wir in deiner Gunst stehen, ich und dein Volk? Doch nur daran, dass du mit uns ziehst und uns dadurch vor allen anderen Bewohnern der Erde auszeichnest, nicht nur mich, sondern auch dein ganzes Volk!«

17 Und der HERR sprach zu Mose: Auch was du jetzt gesagt hast, will ich tun, denn du hast Gnade gefunden in meinen Augen, und ich kenne dich mit Namen.

18 Da sprach Mose: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! 19 Gott aber sprach: Ich selbst werde meine ganze Güte an dir vorüberziehen lassen und den Namen des HERRN vor dir ausrufen: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. 20 Und er sprach: Du kannst mein Angesicht nicht sehen, denn ein Mensch kann mich nicht sehen und am Leben bleiben. 21 Dann sprach der HERR: Sieh, da ist ein Platz bei mir, stelle dich da auf den Felsen. 22 Wenn nun meine Herrlichkeit vorüberzieht, will ich dich in den Fels-Spalt stellen und meine Hand über dich halten, solange ich vorüberziehe. 23 Dann werde ich meine Hand wegziehen, und du wirst hinter mir her sehen. Mein Angesicht aber wird nicht zu sehen sein.

Amen.

I.

Liebe Gemeinde,

In einem Psychologie-Lexikon las ich unter dem Stichwort ›Gesicht‹ Folgendes: Das ›Antlitz‹ eines Menschen wirkt durch Schnitt und Prägung als auffallendster Ausdruck der Individualität. Durch eine unbedachte Handlung kann man »sein Gesicht verlieren«. Mit Masken oder mit Posen sucht manch einer »sein wahres Gesicht zu verbergen«. In der Mimik eines Gesichtes können sich vielfältige Gefühle spiegeln. Wir zeigen auf diese Weise Regungen, deren wir uns oft nicht bewusst sind. Andererseits lässt sich die Mimik derart beherrschen, dass sie über unser wahres Empfinden hinwegtäuscht. Diese Fähigkeit gehört nicht nur zur Aufgabe des Schauspielers, sie wird auch im täglichen Leben oft erwartet, etwa als gleichmütiges Gesicht beim Kartenspielen oder in ähnlichen Situationen.

II.

Schon an diesem kurzen Ausschnitt aus dem Psychologie-Lexikon lässt sich ablesen, wie zentral in unserer Kultur das Gesicht ist. Scheinbar mühelos erkennen wir Menschen, die wir lange Zeit nicht gesehen haben. Selbst in einer großen Menge unbekannter Personen finden wir ein bekanntes Gesicht ohne Probleme wieder.

Selbst Gesichter mit FFP2-Masken haben wir gelernt zu erkennen. Die Entscheidung, ob wir unser Gegenüber kennen oder nicht, fällt in weniger als einer halben Sekunde. Diese Spezialisierung auf das schnelle Erkennen von Gesichtern zeigt sich von Geburt an. Lässt man nämlich Neugeborenen die Wahl, dann bevorzugen sie bereits wenige Stunden nach der Geburt das Gesicht ihrer Mutter gegenüber dem einer fremden Frau. Ebenso früh beginnen sie, die Gesichtsausdrücke von Erwachsenen zu imitieren. (Pause)

Und doch gibt es Menschen, die können Gesichter von Geburt an nicht unterscheiden, selbst nicht die ihrer Kinder und Eltern. Man nennt sie »gesichtsblind«. Etwa 2% der Bevölkerung können andere Menschen nur erkennen, wenn sie weitere Informationen bekommen, wie z. B. die Stimme oder die Art zu gehen. [Beispiel: Bekannte, die auf dem Flohmarkt Interessenten eine halbe Stunde später nicht wiedererkennt].

III.

Liebe Gemeinde,

diese Information führt mich nun zum heutigen Predigttext. Sollte auch Mose zu den gesichtsblinden Menschen gehört haben? Er ist einer der wenigen, die Gott sehr nahe gekommen sind. Und eine der meistgestellten Fragen an ihn wird die Frage nach dem Aussehen Gottes gewesen sein. Aber in dem, was uns von der Begegnung des Mose mit Gott berichtet wird, geht es nur um das äußere Auftreten Gottes: Dass Gott seinen Namen vor Mose ausruft, dass er seine Hand über ihm hält, an ihm vorüberzieht und Mose Gottes Rücken zu sehen bekommt. Das Gesicht Gottes aber bleibt verborgen.

Anthropologen sagen, dass Gesichtsblindheit keine Krankheit ist, sondern eine wichtige Funktion für eine Gemeinschaft ausfüllt: nämlich Freund und Feind auch im Dunkeln unterscheiden zu können – anhand von Gestik und Stimme.

IV.

Wir wissen natürlich nicht, ob Mose gesichtsblind war. Und dass Gottes Angesicht verborgen bleibt, hat für den Erzähler des 2. Mosebuches vor allem theologische Gründe. Was wir aber auf jeden Fall sagen können, ist, dass dieser Mose ein besonders begabter Mensch ist, der in der Lage war, zwischen den Zeilen zu lesen: Dinge zu sehen, die andere nicht sehen konnten, und sich auf dem Feld der indirekten Andeutung, also der Diplomatie, bestens zu bewegen.

Wir denken an Mose vor dem Dornbusch, wo er dem Herrn seinen Namen entlockt. Dann: Mose vor dem Pharao, wie er ihm die Plagen ankündigt, und Mose am Sinai als flehender Bittsteller vor Gott, nachdem das Volk Israel sich mit dem Goldenen Kalb einen Ersatzgott gemacht hatte.

Dieser Mose beherrschte die Regeln der Diplomatie wie kein anderer. Er wusste genau, wie man sich gegenüber hochgestellten Persönlichkeiten verhält, wie weit man gehen kann und wie weit man gehen muss, um etwas zu erreichen.

Und so ist unser Predigttext heute ein Musterstück diplomatischer Verhandlungsführung.

Zunächst erinnert Mose daran, dass er von Gott vor langer Zeit einen Auftrag bekommen hat, nämlich das Volk Israel in das Gelobte Land zu führen. Mose hat klare Vorstellungen davon, wie das gelingen kann. Aber er weiß auch, dass sich der Auftrag nach dem Vorfall mit dem Goldenen Kalb verändert hat und vielleicht sogar zur Disposition steht. Doch der Auftrag ist noch nicht widerrufen, und so fragt Mose nach dem Ansprechpartner vor Ort: »Wen wirst Du mitschicken?«

Diese Frage war gewagt, denn Gott hatte sie ja schon beantwortet: Einen Engel wollte er mitschicken. Dass Mose hier noch mal nachfragte, konnte nur bedeuten, dass er mit dieser Lösung nicht zufrieden war. Und Mose schickt gleich hinterher, warum er glaubt, diese Frage stellen zu können. Er verweist auf seinen guten Namen und die bisherigen guten ›Geschäftsbeziehungen‹: »Du kennst meinen Namen und ich stehe in deiner Gunst.« Und forsch schickt er hinterher: »Bestätige mir den Auftrag, sag, was du vorhast.« Und dann das eigentliche Argument: »Es ist ja schließlich dein Volk«.

Das war eine gewagte Erinnerung an den Bundesschluss am Sinai. Dieses Volk hatte nämlich gerade erst gezeigt, wie ernst es die Verpflichtungen aus dem Bundesschluss nahm (Goldenes Kalb).

Gott lässt sich auf diese Verhandlungsstrategie des Mose ein und erwidert wortkarg:

            »Mein Angesicht geht voraus, beruhigt dich das?«

Im Hebräischen sind das gerade mal vier Worte. Mose weiß, dass dieser knappe Satz Gottes immerhin ein Anfang ist, aber nichts worauf man wirklich bauen kann. Dass das geheimnisvolle Antlitz Gottes vorausgeht, ließ vieles unklar:

- War das eine andere Form von Engel?

- Und was war mit Gott selber?

Mose versucht, Klarheit in die Sache zu bringen: »Kommst Du nun mit oder nicht? Wenn nicht, dann bleiben wir besser hier.« Und dann lotet Mose aus, was die bisherigen guten ›Geschäftsbeziehungen‹ wert sind: »Woran sollen wir deine Gunst erkennen, wenn nicht daran, dass du mit uns ziehst?« Und Mose lässt durchblicken, dass Gott selbst blamiert wäre vor den anderen Völkern, wenn sein erwähltes Volk in der Wüste stecken bliebe.

V.

An diesem Punkt nun endlich lenkt Gott ein: Um Mose willen ist Gott bereit, ihm entgegenzukommen. Doch für einen Diplomaten ist so ein Ergebnis noch nicht konkret genug. Die Abmachung bedarf noch der Besiegelung. Schließlich würden die Israeliten Mose nach einem Beweis für seinen Verhandlungserfolg fragen. Aber was könnte die Abmachung besiegeln?

Den Namen Gottes kannten die Israeliten inzwischen. Gott hatte ihn aus dem Dornbusch heraus offenbart. Ehijeh aschér ehijeh »Ich werde sein, der ich sein werde«.

Wenn nicht der Name, was also dann? Siegel und Unterschrift auf einer Tontafel vielleicht? Das musste gegenüber der Namensoffenbarung Gottes lächerlich wirken. Und die anderen Tafeln mit den Geboten waren nicht einmal unversehrt beim Adressaten angekommen. Aber auch nichts Geringeres als die Namensoffenbarung durfte es sein.

Mose hatte Gott bisher beschreiben wie ein Gesichtsblinder, der vom Dornbusch, von Zeichen und Wundern erzählte, von Donner, Blitzen, Feuer und Rausch. Er hatte sich die Worte Gottes gut gemerkt. Aber die Israeliten brauchten ein Gesicht, so wie sie dem Goldenen Kalb ein Gesicht gegeben hatten.

Und Mose wagt, sein Anliegen vorzubringen: »Lass mich Deine Herrlichkeit sehen!«

Für Mose soll das das Siegel sein, unter dem das gestörte Bundesverhältnis zwischen Gott und Israel erneuert, unter dem Israel in das Gelobte Land einwandern würde.

Doch hier setzt Gott dem Mose nun trotz aller diplomatischen Anstrengung eine Grenze. Mose kann das Angesicht Gottes nicht sehen und zugleich leben. Um die Herrlichkeit Gottes erfassen zu können, müsste Mose nicht mehr Mose sein. Und Gott wäre nicht mehr Gott. Denn genau das war es, was die Israeliten beim Goldenen Kalb, bei der Übertretung des 1. Gebotes übersehen hatten: Gott ein Gesicht zu geben, heißt, Gott zum Abbild unserer Wünsche zu machen, Gott zu de-finieren. Ihm ein Ende zu setzen und damit auch sich selbst.

VI.

Doch diese von Gott gesetzte Grenze soll nicht davon ablenken, dass Gott Mose in einem entscheidenden Punkt entgegenkommt. Er offenbart Mose seine ganze Güte und Schönheit – wie man das hebräische Wort auch übersetzen kann. Und er nennt einen weiteren Gottesnamen: »Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.«

Doch diese beiden Punkte hätten Mose wieder den Vorwurf eingebracht, es sei doch gesichtsblind und liefere aus seiner Begegnung mit Gott wieder nur Äußerlichkeiten und Worte.

Doch Gott arbeitet mit einem großartigen Trick. Er zieht mit seiner Herrlichkeit an Mose vorüber, schützt ihn mit der Hand vor einem unüberlegten Blick und lässt ihn seinen Rücken sehen. Erst später bemerkt Mose, was in diesem Augenblick mit ihm geschehen ist: Als er mit den erneuerten Gebotstafeln vom Berg Sinai herabsteigt und zu den Israeliten tritt, ist ein Glanz auf seinem Gesicht zurückgeblieben, der die Israeliten blendet.

Sie fürchten sich vor dem Unbekannten und erkennen ihn erst, als er zu ihnen spricht. Das heißt, Mose hat das erwartete Siegel der Bundeserneuerung doch noch bekommen. Hatte er mit dem Vorwurf gerechnet, gesichtsblind gescholten zu werden, so sind es nun die Israeliten, die gesichtsblind geworden sind, weil sie Mose mit dem strahlenden Angesicht nicht erkennen. Mose muss sogar eine Decke auf sein Angesicht legen, wenn er mit den Israeliten spricht, um sie nicht zu blenden. Gott lässt Mose seine Herrlichkeit zwar nicht sehen, aber er lässt die Israeliten den Abdruck seiner Herrlichkeit erahnen, mit der er die Erneuerung des Sinaibundes besiegelt hat.

VII.

In Jesus Christus, liebe Gemeinde, hat Gott uns, die wir fern waren von den Bündnissen Israels, ebenfalls einen Abdruck seiner Herrlichkeit offenbart, in dem wir den Neuen Bund besiegelt sehen. In ihm hat Gott seinen Namen erneut offenbart.

Aber auch seine Herrlichkeit werden wir erst am Ende der Zeit sehen, wenn wir ihn schauen von Angesicht zu Angesicht. So wie Paulus schreibt:

»9 Denn unser Erkennen ist Stückwerk (…). 10 Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. 12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.« (1. Kor 13,9.12).

Liebe Gemeinde,

noch eine kleine Nachbemerkung zur Predigt:

In einigen mittelalterlich Kirchen hat sich eine allegorische Darstellung der Synagoge erhalten. Die weibliche Figur der Synagoge hat dort verbundene Augen und einen zerbrochenen Stab.

Die verbundenen Augen sollen die Blindheit Israels für den Messias Jesus darstellen. Diese Blindheit wird aus 1. Kor 13,15f abgeleitet: »Ja, bis heute liegt eine Decke auf ihrem Herzen, sooft aus Mose vorgelesen wird. Sobald er sich aber dem Herrn zuwenden, wird die Decke hinweggenommen.«

Das wurde so verstanden, dass sich Juden zu Christus bekehren müssen, um gerettet zu werden. Doch das mit der Decke ist ganz anders gemein: Wenn Mose zu Israel sprach, hatte er eine Decke vor seinem Angesicht, um die Israeliten nicht blenden. Wenn Mose sich dann wieder Gott zuwendete, nahm er die Decke natürlich weg. Aus einer nicht mehr verstandenen Bibelstelle wurde so die falsche Vorstellung von der Verblendung Israels.

Dass auch unser Erkennen nur Stückwerk ist, wie Paulus einige Kapitel später schreibt, und dass auch wir Gott nicht von Angesicht zu Angesicht sehen, hat man dann gerne überlesen.

»Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.« (Phil 4,7)