Predigt von Pastor Christophb Rehbein am 7. November 2021
über Psalm 85, Verse 8 & 11b

Liebe Gemeinde,

aus den 14 Versen dieses Psalms möchte ich zwei herausnehmen und stark machen. Den ersten dieser beiden hat mir einer der Jubiläumskonfirmanden herausgesucht. Oder herausgefunden. Als er in meiner Mail las, dass ich über Psalm 85 predige, sandte er mir den einen zurück. Verbunden mit der Frage, ob der zur Sprache käme:

Herr zeige uns deine Gnade und gib uns dein Heil!

Ich schlug danach meinen alten Luthertext an der Stelle auf und las: Herr, erweise uns deine Gnade und gib uns dein Heil. Der Jubiläumskonfirmand hatte offenbar die behutsam verbesserte Übersetzung von 2017 zur Hand oder auf dem Bildschirm. Zeige uns..., das ist konkreter. Näher dran am hebräischen Urtext.

Liebe Gemeinde, der Vers ist exakt die Schaltstelle dieses Psalms, genau in der Mitte. Der Betende schaut zurück in die Vergangenheit: Herr, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Land und hast erlöst die Gefangenen Jacobs...

Da spricht er den Exodus an: Als das Rote Meer grüne Welle hatte für Israel und der Pharao darin ertrank. Und nun bringt die Gegenwart erneute Abhängigkeit von Großmächten – da folgt die Bitte um einen Neustart: Do it again, o Lord. Mach's noch einmal, Gott! Lass ab von deinem Zorn über dein widerspenstiges Volk!

Willst du uns denn nicht wieder erquicken, dass dein Volk sich über dich freuen kann? Nur wenn dieser eine Gott sich wieder bewegt, kann es weitergehen. Vers 8 ist ganz in die Gegenwart, ins Präsens gesprochen: Herr, zeige uns deine Gnade und gib uns dein Heil. Oder, wie wir es vorhin aus der Zürcher Bibelübersetzung hörten:

Lass uns, Herr deine Gnade schauen und schenke uns deine Hilfe!

Dann können wir aufrecht in die Zukunft gehen, dann können wir gestärkt und getröstet nach vorne blicken. Was wäre das für eine tolle Perspektive: Dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue…(V 11a)

Liebe Generation der Jubiläumskonfirmandinnen und -konfirmanden, ich zähle mich schon mal dazu, obwohl ich erst in zwei Jahren dran bin: Ich denke, wir befinden uns biografisch an genau so einer Schaltstelle zwischen Rückblick und Zukunft. Wir haben schon eine ganze Weile gelebt – wie viel Zeit bleibt uns noch? Werden wir am uns bestimmten Tag in Frieden Abschied nehmen und sterben können?

Gerade letzte Woche traf ich eine Frau, die den Schalter mit Mitte 60 umgelegt hat. Sie arbeitet noch als Ärztin, war aber nie so recht zufrieden mit ihren Heilerfolgen. Sie hat ihr großes Leiden an den vielen Berichten, die sie neuerdings schreiben musste. Diese Zeitfresser, schimpft sie. Und hatte für einige Wochen eine Auszeit in einem Kloster genommen. Und sagt mir: „Wissen Sie was? Ich habe im Kloster die Dankbarkeit ganz neu gelernt. Ich habe gesehen, was in meinem Leben alles gelungen ist. Mein Mann ist in allem Stress an meiner Seite geblieben, unsere drei Kinder sind relativ gut gelungen, sie haben alle einen guten Beruf gelernt. Wir haben ein schönes Haus. Und nebenbei schon viel von der Welt gesehen. Und für mein letztes Berufsjahr gilt: Mut zur Lücke! Ich tue, was ich kann, und den Rest überlasse ich Gott. Ich habe wieder angefangen zu beten. Seitdem lebe ich anders“.

Daneben stelle ich einen Gedanken des Schriftstellers Elli Wiesel. Er hat sich in seinem Buch Die Weisheit des Talmud mit den Pirke Avot beschäftigt. Das ist das für uns vielleicht am leichtesten zugängliche Traktat des Talmud, übersetzt Sprüche der Väter. Da steht: Auf drei Säulen ruht die Welt: Auf dem Lernen, dem Gebet und dem Tun guter Werke. (1,2)

Die Mitte ist das Gebet! Elli Wiesel macht daraus für unsere Tage den gehaltvollen Satz, den sie bitte aus dieser Predigt mitnehmen mögen: „Das Gebet gibt dem Menschen eine Sprache, um leben zu lernen in der Erwartung.“

Hören wir vor diesem Hintergrund noch einmal neu den Umschalt-Vers aus der Mitte unseres Psalms. Der in der Gegenwart neu auf Vergangenes zurück schaut und von dort Zuversicht gewinnt für die Zukunft: Herr, zeige uns deine Gnade und gib uns dein Heil. Oder die Schweizer Version: Lass uns, Herr, deine Gnade schauen und schenke uns deine Hilfe.

Ich möchte weitergehen zu einem dieser schönen Verse, der die Wünsche für eine gute Zukunft ausdrückt: Dass Gerechtigkeit und Frieden sich küssen – das wäre eine Konkretion für die Vorausschau auf Gottes Heil, auf Hebräisch Schalom – was mehr ist als die Abwesenheit von Krieg. Dass es allen gut geht, den Kleinen und den Großen, das erst macht den Frieden aus. Als ich hier in Hannover Vikar war Ende der 80er Jahre, da war viel vom konziliaren Prozess die Rede. In der kanadischen Stadt Vancouver hatte die versammelte Weltkirchenökumene im Jahr 1983 erklärt: Die Stationierung von Massenvernichtungswaffen widerspricht dem Geist Jesu wie auch den Menschenrechten. Und der alten biblischen Einsicht, dass Gerechtigkeit und Frieden zusammengehören, wurde als drittes Postulat noch die Bewahrung der Schöpfung hinzugefügt. Wie wir wissen, ist diese Aufgabe bleibend, der Prozess hat gerade erst begonnen.

Wie gut, dass unser Psalm dieses Liebespaar in Erinnerung ruft, als Zukunftsvisionen für heute: Gerechtigkeit und Friede küssen sich!

Die Bibel wird hier sehr zärtlich. Und biblische Küsse sind stets etwas besonderes. Ich habe im Alten wie im Neuen Testament nach Küssen geforscht. Sie sind selten. Den Auftakt macht ein Bruderkuss, der mehr ist als ein Ritual. Esau küsst von ganzem Herzen seinen Zwilling Jakob, der sich nach langer Entfremdung mit ihm versöhnen will. Später küsst Joseph seine Brüder. Und ihm kommen die Tränen, als er sich ihnen zu erkennen gibt in Ägypten. Samuel küsst Saul, den ersten König Israels. David küsst viele Frauen – aber das steht nur zwischen den Zeilen…

Jesus wird geküsst, einmal verhängnisvoll vom Jünger Judas. Und einmal sehr zärtlich von der Frau, die ihn mit kostbarer Salbe benetzt. Paulus wird geküsst, als er sich in Ephesus vom Presbyterium verabschiedet und ein Wiedersehen fraglich ist. In seinem Brief nach Rom und Korinth empfiehlt der Apostel den Gemeinden: Grüßt einander mit dem heiligen Kuss. Das ist dann fast schon der vollständige biblische Kuss – Befund.

Sie vermissen das Hohelied Salomos und sie haben recht! Das nämlich beginnt mit reiner Poesie: Er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes, ja deine Liebe ist köstlicher als Wein...

Inspiration für Liebesbriefe - und aus der gleichen Quelle gesprudelt wie unser Psalmgebet. Wenn Friede werden soll auf der Erde, dann muss die Liebe zwischen Menschen in Bewegung kommen. Aufeinander zu, auch körperlich. Darum leiden wir ja so unter den Corona – Abständen, die weitaus meisten jedenfalls.

Gerechtigkeit und Frieden können nicht von Regierungen verordnet werden, die organisieren sich in aller Regel auch militärisch und sind bereit zum Krieg. Dieses Liebespaar kann nur von unten wachsen – und wie das gehen kann, beschreibt am besten die Poesie. Ich zitiere: An dem Ort, an dem wir Recht haben, werden niemals Blumen wachsen im Frühjahr. Der Ort, an dem wir Recht haben, ist zertrampelt und hart wie ein Hof. Zweifel und Liebe aber lockern die Welt auf wie ein Maulwurf, wie ein Pflug…

So dichtet Jehuda Amichai in unserer Zeit, in dem Land, in dem unser Psalm entstand. Für dessen zwei Völker wir so sehr Gerechtigkeit und Frieden ersehnen. Weil wir spüren: Gerechtigkeit im Nahen Osten, die würde sich auswirken auf den Weltfrieden. Das wäre ein Modell für eine Zukunft, an der unsere Kinder und Großkinder noch Freude haben könnten.

Ein anderer Dichter aus Israel, David Grossman, wird in einem Interview gefragt, woher er die Kraft nimmt, auf dieser Vision zu beharren: Dass der Frieden, den er mit seinen arabischen Freund:innen längst geschlossen hat, sich im ganzen Land Israel mit Palästina ausbreitet. Wie kann man dranbleiben, wo doch alles so verfahren erscheint? David Grossman antwortet mit einer Begebenheit aus den USA, mit der ich meine Predigt zum Ende führen möchte:

Während all der erbärmlichen Jahre des Vietnamkrieges demonstrierte ein Amerikaner jede Woche einen Tag lang vor dem Weißen Haus in Washington gegen den Krieg. Irgendwann fragte ihn ein skeptischer Journalist: Glauben Sie wirklich, dass sie damit die Welt verändern? Der Demonstrant staunte: „Die Welt verändern? Das eher nicht! Ich sorge nur dafür, dass die Welt mich nicht verändert.“

Bleiben auch wir beharrlich! Und lassen uns unseren Glauben nicht kleinreden, unsere Liebe nicht und auch unsere Hoffnung nicht. Denn wie sagt Elie Wiesel:

Das Gebet gibt uns Menschen eine Sprache, um leben zu lernen in der Erwartung. Dass Gottes Gnade zu schauen sein wird und Gerechtigkeit und Frieden sich küssen.

Denn Sein Friede, der weiter reicht als unsere menschliche Vernunft, der wird unsere Herzen und unsere Sinne bewahren in Christus Jesus.

Amen.