• Predigt
»Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.« (Röm 1,7) Amen.
I.
Liebe Gemeinde,
es gibt einen reichen Geschäftsmann, der als Kind reicher Eltern geboren wurde. Für ihn teilt sich die Welt in Gewinner und Verlierer ein. Und er hat keinen Grund daran zu zweifeln, dass er auf die Seite der Gewinner geraten ist. Einem Bewerber in einer Fernsehshow gab er einmal den Rat:
»Wenn Du Dich mit Verlierern abgibst,
so wirst Du selbst zum Verlierer.«1
Ich stelle mir vor, dass dieser reiche Geschäftsmann mit anderen in einem Gottesdienst sitzt und Psalm 1122 hört:
1 Hallelujah. Wohl dem, der den HERRN fürchtet,
an seinen Geboten großes Gefallen hat.
2 Mächtig werden seine Nachkommen sein im Land,
das Geschlecht der Aufrichtigen wird gesegnet.
3 Wohlstand und Reichtum sind in seinem Haus,
und seine Gerechtigkeit bleibt für immer bestehen.
Diese ersten Sätze des Psalmes werden unserem Geschäftsmann wahrscheinlich runtergehen wie Öl. Nicht oft sitzt er in der Kirche, aber hin und wieder zeigt er, dass er dazugehört. Das ist in seinen Kreisen durchaus wichtig. Um so besser, dass er gleich zu Beginn des Gottesdienstes mit diesen Psalmworten abgeholt wird:
Die Nachkommen werden mächtig und gesegnet sein. Wohlstand und Reichtum bleiben im Haus für immer.
Glaubt man den Bibelexperten, so war der Psalm tatsächlich für wohlhabende und einflussreiche Kreise in Jerusalem bestimmt.3 Unser Geschäftsmann kann sich also zurecht in besonderer Weise angesprochen fühlen.
Ein anderer Gottesdienstbesucher – drei Reihen hinter ihm – wird diese ersten Psalmworte vielleicht mit anderen Ohren hören: Von Gottesfurcht ist dort die Rede, von der Lust an den Geboten und von Gerechtigkeit.
Wenn es ein kritischer Gottesdienstbesucher ist, wird er vielleicht fragen, was Gebote mit Lust zu tun haben,
was Furcht – und sei es Gottesfurcht – mit Wohlergehen zu tun hat und welche Gerechtigkeit hier eigentlich gemeint ist: etwa die Gerechtigkeit, die in den Predigten meistens unbestimmt bleibt und auch gerne mit Gnade und Barmherzigkeit in einem Atemzug genannt wird?
Und dieser Gottesdiensthörer muss nicht lange warten; schon im nächsten Vers des Psalmes hört er den vertraut abstrakten Dreiklang der Qualitäten Gottes:
4 In der Finsternis erstrahlt den Aufrichtigen ein Licht: [nämlich] der Gnädige, Barmherzige und Gerechte.
Für den reichen Geschäftsmann ist dieser Dreiklang so etwas wie der Dreiklang seines Lebens: Um wohlhabend zu bleiben, darf man nichts verschenken. Aber hin und wieder kann er sich als gnädig und barmherzig erweisen und für einen guten Zweck spenden. Dass seine ›Wohltätigkeit‹ dabei hauptsächlich Geschäftspartnern zugute kommt, findet er nur gerecht. Und darin sieht er sich auch durch die nächsten beiden Psalmverse bestätigt:
5 Gut ist, wer freigebig und zu leihen bereit ist und seine Geschäfte gerecht besorgt. 6 Denn niemals wird er wanken, ewig wird der Gerechte im Gedächtnis sein.
Der Gottesdienstbesucher drei Reihen hinter ihm wundert sich indessen immer mehr, dass sich der reiche Geschäftsmann bei den Psalmworten entspannt zurücklehnt und sich offenbar so richtig ernst genommen fühlt.
Wie konnte das sein? Der Psalm sprach doch von den »Aufrichtigen«, die in der Finsternis ein Licht zu sehen bekommen, die das Geld nicht um jeden Preis zusammenhalten, sondern anderen leihen und bei allen Geschäften fair bleiben. Und das konnte man – bei allem, was man hörte – von dem Geschäftsmann – weiß Gott – nicht sagen. Ihm war es wichtig, den größtmöglichen Vorteil aus jedem Geschäft zu ziehen und den eigenen Namen möglichst weithin leuchten zu lassen. Weil er reich war, würde sein Name nicht so schnell vergessen, nicht aber, weil er ein Gerechter war.
So wohl sich unser reicher Geschäftsmann bei der Psalmlesung anfangs auch fühlte, er spürt, dass die Gottesdienstbesucher hinter und neben ihm die ganze Zeit ihre Blicke auf in richten.
Klar, er war ein Prominenter – das kannte er: offen oder verstohlen angestarrt zu werden. Und er hatte auch eine Vorstellung davon, wie viele Gerüchte es über ihn gab. Der Neid war ja eine mächtige Triebfeder für Halbwahrheiten. Diese Gedanken schießen ihm durch den Kopf, als er mit halbem Ohr der Psalmlesung folgt:
7 Vor bösem Gerücht fürchtet er sich nicht, fest ist sein Herz, voll Vertrauen auf den HERRN. 8 Und getrost ist sein Herz, er fürchtet sich nicht, bis sein Blick sich weidet an seinen Feinden.
»Ja«, denkt der Gottesdienstbesucher hinter ihm, »Hochmut kommt vor dem Fall. Noch schwimmst Du auf der Welle des Erfolgs, aber bald schon wird es mir eine Lust sein, auf Dein Scheitern zu warten.« Denn, wer zu den Aufrechten zählt und Gottes Gebote ernst nimmt, der wird dafür irgendwann belohnt. So, und nicht anders konnte es sein. Mit dieser Gewissheit hört er die letzten beiden Verse des Psalmes:
9 Er verteilt und gibt den Armen, seine Gerechtigkeit bleibt für immer bestehen, hoch in Ehren ragt sein Horn. 10 Die, die ausbeuten, sehen es voller Wut. Sie knirschen mit den Zähnen und vergehen. Die Gier der Ausbeuter geht zugrunde.
Bei den Worten »hoch in Ehren ragt sein Horn« denkt unser Geschäftsmann an das Hochhaus, das er gerade erst eingeweiht hat. Auf ihm prangt weithin sichtbar sein Name. Als aber die Rede auf die »Ausbeuter« kommt, ist er doch kurz irritiert und rutscht unruhig auf der Kirchenbank hin und her. »Ausbeuter?« – Hier musste es sich um eine Fehlübersetzung handeln. Wie sonst kam dieses schreckliche Wort aus der Gewerkschaftssprache in diesen schönen Psalm? ›Ausbeuter‹ sagen die einen, aber dahinter stünden aufopferungsvolle Jahre der Arbeit, um für tausende Menschen Arbeitsplätze zu schaffen. Nur so könne man den Armen helfen. Alles andere sei vertane Liebesmüh...
II.
Liebe Gemeinde,
ein Psalm und zwei Möglichkeiten, ihn beim Hören zu verstehen.
Der eine hört zu viel Evangelium heraus, der andere zu viel Gesetz. Für den einen enthält der Psalm eine bedingungslose Verheißung, die schon jetzt sichtbar wird. Der andere sieht eine von Gott gegebene Gesetzmäßigkeit, die das sichtbare Unrecht wiedergutmachen wird.
»Mein Erfolg zeigt doch, dass mein Weg gesegnet ist«, sagt der Eine. »Irgendwann muss es dem Gerechten doch besser, und dem Bösen schlechter gehen«, sagt der Andere.
Schon Johannes Calvin hat sich in seinem Psalmenkommentar mit dieser Frage auseinandergesetzt: Warum geht es dem Gerechten nicht besser in diesem Leben als dem Ungerechten? Calvin schreibt:
»Es kommt vor, das der beste Mann keine Kinder hat (…). Ebenso geschieht es, dass viele Gottesverehrer (…) an Krankheiten leiden, durch vielfache Beschwerden jämmerlich gebeugt werden. So ist die allgemeine Regel festzuhalten, dass sich Gott in seiner Güte gegen die Seinen bald reichlicher, bald spärlicher erweist, wie er es bei jedem einzelnen für nützlich erkennt. Zuweilen verbirgt er sogar die Zeichen seiner Gunst, sodass es scheinen kann, als habe er die Seinen ganz vergessen.«4
Calvin sieht eine Lösung seiner Frage darin, dass es am Menschen liegt. Wenn unsere Sünde nicht wäre, würden Gottes irdische Wohltaten deutlicher vor Augen stehen. Zudem könne nicht jeder mit Gottes Wohltaten angemessen umgehen, sodass es für ihn eher schädlich wäre, wenn Gott ihn freigebiger behandeln würde. Und er fügt hinzu, dass auch Reichtum, der auf Geiz beruht, nicht glücklich macht. Der Gläubige solle sich an seiner Redlichkeit erfreuen; sie sei die »zuverlässigste Hüterin der Segnungen Gottes«.5
Für Calvin ist also nicht der Anschein wichtig, sondern ob darauf der Segen Gottes ruht. Tatsächlicher Reichtum kann also gemessen an dieser Realität Armut sein. Und fühlbare Armut kann im Gedächtnis »vor Gott, den Engeln und allen Frommen«, wie Calvin sagt, im Segen bleiben.6 Der Gläubige, so Calvin, habe etwas, das der Gottlose nicht hat. Er kann Gott als Hüter seines Lebens begreifen und durch dieses Gottvertrauen sichere Kraft gewinnen.7
III.
Liebe Gemeinde,
man hört hier den Genfer Reformator, der sich als Seelsorger der in Frankreich verfolgten Protestanten versteht. Und zugleich adressiert Calvin seine Auslegung an diejenigen, die Möglichkeiten haben, um in dieser Situation gezielt und reichlich zu helfen.8 Das sind die wohlhabenden Flüchtlinge und die reichen Bürger der Stadt Genf.
Der Psalm 112 ist für Calvin keine Wirklichkeitsbeschreibung, sondern ein Hoffnungslied, ein Gotteswort gegen eine bedrückende Realität. Der Psalm zeigt den Anbruch einer neuen Welt, die im Handeln der Gerechten schon jetzt Wirklichkeit werden soll. (Pause)
Der Münsteraner Alttestamentler, Erich Zenger, hat in seiner Auslegung des Psalmes dafür einen wichtigen Hinweis geliefert.9 Er deutet auf Vers 4:
»In der Finsternis erstrahlt den Aufrichtigen ein Licht: [nämlich] der Gnädige, Barmherzige und Gerechte.«
Für Zenger ist das so etwas wie eine Gottesoffenbarung. Und mit dieser Offenbarung werden dem Aufrichtigen drei Grundübungen Gottes vor Augen geführt:
Gnade, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit.
Und diese Grundübungen sind Grundworte des guten Lebens. Indem wir ihnen entsprechen, leuchtet Gottes Ebenbildlichkeit in uns, wird etwas von der neuen Wirklichkeit Gottes offenbar.
IV.
Liebe Gemeinde,
ich hatte eingangs den reichen Geschäftsmann zitiert:
»Wenn Du Dich mit Verlierern abgibst,
so wirst Du selbst zum Verlierer.«
Derselbe Geschäftsmann saß im Januar 2016 in einem presbyterianischen Gottesdienst in Iowa, und als der Teller mit dem Abendmahlsbrot herumging, zückte er zuerst sein Portemonnaie, weil er glaubte, jetzt sei die Kollekte dran. Das Brot, das er nahm, war Brot von einem, der sich den Verlierern der Gesellschaft zugewandt hatte, der selbst zum Verlierer wurde, aber genau darin zum größten Gewinn für uns Menschen. In Jesus Christus ist die Gnade, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes Mensch geworden. Seine Lehre vom Reich Gottes ist – wie unser Psalm heute – eine Lehre vom Anbruch einer neuen Welt, die im Handeln der Gerechten schon jetzt Wirklichkeit werden soll.
V.
Liebe Gemeinde,
der reiche Geschäftsmann saß am Dienstag dieser Woche erneut in einem Gottesdienst. Diesmal in der National-Kathedrale von Washington. Die 65jährige [Diözesan-]-Bischöfin Mariann Budde [Baddi] hielt die Predigt und sie wagte es, folgendes zu sagen:
»Mr. President, Millionen Menschen haben Ihnen ihr Vertrauen geschenkt. Und wie Sie gestern der Nation sagten, haben Sie die vorsehende Hand unserer liebenden Gottes über sich gespürt. Im Namen unseres Gottes bitte ich Sie, sich der Menschen in unserem Land zu erbarmen, die jetzt Angst haben.« Es gebe sexuelle Minderheiten und Immigranten, die gerade um ihr Leben fürchteten. Da seien Menschen, »die unsere Ernte einfahren und unsere Bürogebäude putzen, die auf Geflügelfarmen und in Fleischverpackungsbetrieben arbeiten, die in Restaurants das Geschirr (...) abwaschen und in Krankenhäusern Nachtschichten übernehmen.« Sie seien vielleicht keine Staatsbürger und hätten nicht die richtigen Papiere. »Aber die große Mehrheit der Einwanderer sind keine Kriminellen. Sie zahlen Steuern und sind gute Nachbarn.«
»Ich bitte Sie, Mr. President, erbarmen Sie sich der Menschen in unseren Gemeinden, deren Kinder befürchten, dass ihre Eltern weggebracht werden«, sagte sie zum Schluss. Er möge denen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, »helfen, hier Mitgefühl und Aufnahme zu finden. Unser Gott lehrt uns, dass wir dem Fremden gegenüber barmherzig sein sollen, denn wir alle waren einst Fremde in diesem Land.«10
Die Kameras waren die ganze Zeit auf den Präsidenten und seine Familie gerichtet. Als er direkt angesprochen wurde, öffnete er die Augen und blickte hinauf zur Kanzel. Je deutlicher die Bischöfin in ihrer Predigt wurde, um so verärgerter blickte er um sich. Sein Vizepräsident und seine Kinder verdrehten die Augen: Ungeheuerlich, dass es jemand wagt, den Präsidenten kurz vor seiner Vereidigung ins Gewissen zu reden.
Nach dem Gottesdienst wird der Geschäftsmann gefragt, wie er den Gottesdienst fand. »Nicht gut«, »nicht inspirierend« sagt er. »Das war kein guter Gottesdienst.«
Als der Geschäftsmann später am Tag als Präsident vereidigt wird, sagt er zwar zum Schluss »So wahr mir Gott helfe.« Aber die von seiner Frau hingehaltenen Bibeln zu berühren, wagt er nicht. Und statt Erbarmen zu zeigen, erlässt er im Sekundentakt Dekrete: Grundrechte werden infrage gestellt, Einwanderer an der Südgrenze sollen mit Hilfe des Militärs bekämpft werden. Im Land geborene Kinder von illegalen Einwanderern sollen nicht mehr automatisch Staatsbürger sein; sie würden künftig staatenlos geboren.
Erbarmen hat der Präsident nur mit den verurteilten Straftätern und -täterinnen, die am 6. Januar 2021 das Kapitol gestürmt haben, um die rechtmäßige Wahl seines Vorgängers zu verhindern.
Später am Tag verlangt der Präsident von der Bischöfin eine Entschuldigung. Und ein Abgeordneter aus seiner Partei rät, die Bischöfin auf die Liste der abzuschiebenden Personen zu setzen.
Die Bischöfin jedoch sagt: »Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich um Gnade für andere bitte.«
»In der Finsternis erstrahlt den Aufrichtigen ein Licht: der Gnädige, Barmherzige und Gerechte.« Amen.
1 http://www.statemaster.com/encyclopedia/The-Apprentice-3
2 Zugrunde gelegt ist die Übersetzung der Zürcher Bibel; der Vers 10 ist der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache entnommen.
3 Erich Zenger/Frank-Lothar Hossfeld, Die Psalmen III: Psalm 101-150, Die Neue Echter-Bibel. Kommentar zum Alten Testament 41, Würzburg 2008, 655.
4 Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung 5. Band Die Psalmen 2. Hälfte Verlag der Buchhandlung des Erziehungsvereins, Neukirchen, übersetzt von K. Müller, zu Ps 112,2.
5 A.a.O., zu Ps 112,3
6 A.a.O., zu Ps 112,6
7 A.a.O., zu Ps 112,7
8 A.a.O., zu Ps 112,9
9 Zenger, a.a.O., 655, 657.
10 SZ vom 23.1.2025, S.2.