Und des HERRN Wort geschah zu mir: 2 Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? ... 10 So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen. 11 Denn so spricht Gott der HERR: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. ... 16 Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist. ... Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR. (Ezechiel 34- aus der Lutherbibel )

Liebe Gemeinde,

Hesekiel oder Ezechiel war kein Hirte, sondern ein Priester. Er lebte nicht in Jerusalem, sondern im weit entfernten Babylonien. Er schaute nicht auf die grünen Auen und Berge Israels, sondern auf eine jüdische Siedlung vor der Großstadt Babylon. Er war nach der militärischen Niederlage seines Königs Jehojachins mit vielen anderen Jerusalemern der Oberschicht ins Exil verschleppt worden. 597 vor Chr. Ezechiel war ein Visionär, ein Schriftkundiger. Und der Alltag eines Hirten muss ihm fremd gewesen sein. Aber es ging ihm auch nicht direkt um Hirten, die wegen der Futterplätze mit ihrer Herde von Weideplatz zu Weideplatz ziehen. Der für seine Herde sorgende Hirte war im Orient ein verbreitetes Bild für den König mit seinem Volk geworden. Denn genauso wie den Hirten konnten den Königen fürsorgliches oder nachlässiges Handeln nachgesagt werden. So wie es gute und schlechte Hirten gab, so gab es auch gute und schlechte Könige.

Ezechiel gab in Babylon Gottes Urteil über die Könige Israels weiter. Sie hatten ihre Aufgaben gegenüber dem Volk grob vernachlässigt. Sie hatten versagt: ihre außenpolitische Bündnispolitik hatte fatale Folgen, innenpolitisch hatte es soziales Unrecht gegeben. Und sowieso hatten sie gegen Gebote Gottes verstoßen. Deshalb eroberten die Babylonier Jerusalem und verschleppten viele einflussreiche Bewohner nach Babylon. Die Hirten hatten versagt, und die Herde war versprengt worden. Doch in dieser großen Krise gab es einen Neuanfang. Ezechiel konnte Hoffnungsvolles berichten. Denn Gott selbst wollte seinem Volk nun Hirte sein. Er selbst wollte es beschützen und versorgen. Und darüber hinaus sah Ezechiel die Zukunft zwischen Gott und seinem Volk nicht in der Fremde. Er wusste, dass Gott die vielen verirrten und verlorenen Angehörigen seines Volkes in der Heimat, in Israel selbst, sammeln wollte. Diese Botschaft sagte Ezechiel den Menschen, die mit ihm im Exil lebten. Das Gericht war vorbei, Gott selbst würde ihr Hirte sein. Und so träumte Ezechiel von den grünen Auen und den Tälern Israels, die er selbst schon lange nicht mehr gesehen hat. Aber was er sagte, ließ auch seine Zuhörenden träumen und neue Hoffnung schöpfen.

Als wir bei einem Stadtfest vor einigen Jahren Passanten danach fragten, welcher Bibelvers ihnen der liebste sei, gab es eine ganz eindeutige Entscheidung. Weit über die Hälfte wählte den Anfang des 23. Psalms aus: „Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln.“ So vielen ist die Vorstellung wichtig, dass Gott sich ihnen gegenüber schützend und fürsorglich verhält, wie ein guter Hirte. Gott als Hirte ist zu einer sehr persönlichen Glaubensaussage geworden. Aus einem großen Vertrauen heraus ist Gott zu meinem Hirten geworden. Und auch wenn Hirte und Herde gar nicht zu unserer Lebenswirklichkeit gehören, so wissen wir doch genau, was ihr Verhältnis ausmacht und dass die Zuwendung des Hirten nicht nur der Herde als ganzer, sondern dem einzelnen hilft und guttut. Der Hirte sorgt für die Erfrischung und die Pause. Er gibt Anleitung für die richtigen Wege und Ermutigung. Und das Vertrauen ist groß, dass dieser Hirte mich auch durch das dunkle Tal geleiten würde. Das geht nur, weil Gott es anbietet und unter Beweis stellt.

Im Vers 16 verspricht Gott durch den Propheten. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist

Mit der Zusage Gottes wird zunächst einmal die Hoffnung Israels geweckt und am Leben gehalten. Eine Hoffnung, die sich noch nicht in Gänze erfüllt hat. Schon in biblischer Zeit kehrten nur einige der Verbannten nach Jerusalem zurück, die andere blieben in Babylon. Und nach dem jüdischen Krieg ließen sich Juden und Jüdinnen überall im römischen Reich nieder. Später blieben viele unter sich in den Ghettos europäischer Großstädte. Und noch später starben viele in den Konzentrationslagern. Eine Rückkehr für alle verlorenen Schafe ist Inhalt der Hoffnung Israels.

Suchen wir heute in unserer Gesellschaft nach Hirten oder Hirtinnen? Nach Menschen, die Verantwortung für andere übernehmen und fürsorglich denken? Wir leben in einer Demokratie, in der bewusst Macht auf verschiedene Organen aufgeteilt wird, damit sie sich gegenseitig kontrollieren. Politik machen gewählte Volksvertreter und Volksvertreterinnen. Aber es gibt immer wieder in politischen oder gesellschaftlichen Krisen den Wunsch nach Menschen, die eine Führungsrolle ergreifen und Klärung schaffen. Die Diskussion um die Kanzlerkandidaten beschäftigen die Parteien - und nicht nur sie - an diesem Wochenende. Und im Bundestag ging es am Freitag um die Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes, damit dem Bund weitere Kompetenzen zur Bekämpfung der Folgen der Corona-Pandemie eingeräumt werden. Auch in der Kirchen gibt es immer wieder den Wunsch, dass ein Repräsentant sich schnell zu Wort meldet und nicht erst die Beratung von Gremien oder Synoden abwarten muss. Aber der Vergleich eines Spitzenpolitikers oder eines Kirchenmenschen mit einem Hirten ist heute nicht mehr angemessen. Der Vergleich geht von einer Hierarchie zwischen dem Hirten und der Herde aus, von einer Abhängigkeit des Volkes von der Leitung. Das ist heute in weiten Fällen überwunden.

Jedoch ist es als Redewendung beliebt von einer Herde ohne Hirten zu sprechen: im Sport können Fans bedauern, dass ihre Mannschaft keine Siege feiern konnte, weil sie wie eine Herde ohne Hirten auftrat. Und wenn es in einer Gruppe Unklarheiten gibt, kann es auch daran liegen, dass niemand aus der Gruppe die Verantwortung übernimmt und sich um Lösungen kümmert: das Bild von einer Herde ohne Hirten bringt das gut auf den Punkt. Sie zeigt Defizite auf.

Mit den Gottesbildern ist es anders. Gott wie ein guter Hirte. Viele positive Tätigkeiten verbinden sich mit dem guten Hirten. Wir können bei Gott nach Schutz suchen. Er kann in ihm ein Gegenüber suchen, dem er wichtig ist. Sie kann nach Orientierung suchen, wenn sie nicht weiter weiß. Ich kann bei ihm nach Unterstützung suchen, wenn mir die Kraft fehlt. Wir alle können nach seiner Begleitung in guten und schlechten Tagen suchen. Dabei vergleichen sich sicher viele von uns nur ungern mit dem Schaf einer Herde. Es gilt als dumm. Aber wir wissen, worauf wir bei Gott hoffen können. Gott ist mein Hirte, daran können wir uns halten, weil er es so versprochen hat. Und dieser Vergleich von Gott als gutem Hirten ist so wichtig, dass wir auch Konfirmandinnen und Konfirmanden von dem guten Hirten erzählen. Der jüngere Generation kann sicher noch weniger mit dem Hirten und der Herde anfangen. Aber auch sie fragt nach Schutz, Begleitung und Orientierung im eigenen Leben. Sie können beten lernen, wenn sie sich um ein krankes Familienmitglied Sorgen machen. Sie können beten lernen, wenn ihnen die Zukunft dunkel und unsicher erscheint. Sie können ermutigt werden, sich an den fürsorglichen Gott zu wenden.

Und was ist mit den anderen Schafen? Wenn Jesus sich als guter Hirten einführt, kommt die Gemeinde in Blick. Eine Gemeinschaft bildete sich um ihn. Er schützte sie, er verteidigte sie. Sogar mit seinem Leben. Er litt für sie. Und er öffnete seine Herde für neue Schafe, die zu ihm gehören wollen. All das tut nur ein Hirte, dem sehr an den Schafen liegt. Auch die ersten Christen kannten das Leben der umherziehenden Hirten sicher nicht aus eigener Erfahrung. In der christlichen Gemeinde trafen sich eher Sklavinnen und Sklaven, Händlerinnen und Handwerker, Fischer und Apostel, Witwen und Waisen. Aber die Tätigkeit eines guten Hirten half ihnen zu beschreiben, was Jesus für sie getan hatte und tat. Nach Ostern führt er die verlorenen und verirrten Jünger und Jüngerinnen zur Gemeinschaft zusammen. Pfingsten gibt er ihnen neue Orientierung, ja Begeisterung. Davon lebt seine Kirche. Auch heute und morgen. Und das sind nicht nur die kleinen dummen Schäfchen einer Herde, sondern suchende und fragende Menschen unserer Zeit, mündige Christen und Christinnen. Durch seinen Geist werden wir getragen und begleitet. Er führt uns zusammen  - als guter Hirte.
Amen.