• Predigt
»Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.« (Röm 1,7) Amen.
I.
Das Evangelium, das heute zugleich Predigttext ist, steht im Johannes-Evangelium, im Kapitel 4:
5 [Jesus] kommt nun in eine Stadt Samarias, die heißt Sychar, nahe bei dem Stück Land, das Jakob seinem Sohn Joseph vermacht hatte. 6 Dort befand sich die Jakobsquelle. Da Jesus nun ermüdet war von der Wanderung, setzte er sich ohne weiteres an der Quelle nieder. Es war gegen Mittag. 7 Eine Frau aus Samaria kommt, um Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr: »Gib mir zu trinken!« 8 Seine Jünger waren nämlich in die Stadt gegangen, um Proviant einzukaufen. 9 Da sagt die samaritische Frau zu ihm: »Wie kannst du als Jude von mir, einer Samariterin, zu trinken erbitten?« Die Juden verkehren nämlich nicht mit den Samaritern. 10 Jesus antwortete und sprach zu ihr: »Wüßtest du um die Gabe Gottes, und wer es ist, der zu dir sagt: ›Gib mir zu trinken!‹, so hättest du ihn gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.« 11 Die Frau sagt zu ihm: »Herr, du hast nicht einmal ein Schöpfgefäß, und der Brunnen ist tief. Woher also hast du das lebendige Wasser? 12 Bist du etwa größer als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gegeben hat? Sowohl er selbst hat davon getrunken, als auch seine Söhne und sein Vieh.« 13 Jesus antwortete und sprach zu ihr: »Jeder, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen. 14 Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, der wird nie wieder Durst bekommen; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm geben werde, in ihm zu einer Quelle von Wasser, das zum ewigen Leben sprudelt.« 15 Die Frau sagt zu ihm: »Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe und nicht mehr hierherkommen muß, um zu schöpfen.« 16 Er spricht zu ihr: »Geh, rufe deinen Mann und komme hierher!« 17 Die Frau antwortete und sprach: »Ich habe keinen Mann.« Jesus spricht zu ihr: »Du hast zu Recht gesagt: ›Einen Mann habe ich nicht.‹ 18 Denn fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, der ist nicht dein Mann. Da hast du Wahres gesagt.« 19 Die Frau sagt zu ihm: »Herr, ich sehe, du bist ein Prophet.«

Liebe Gemeinde,
im alten Israel ist der Brunnen ein Ort des Lebens und der Begegnung: Da stillen Menschen und Tiere ihren Durst. Da werden Gespräche geführt. Am Brunnen, da lernen sich Menschen kennen, da kann man sich sogar verlieben. Drei Liebesgeschichten des Alten Testamentes beginnen an einem Brunnen: Die von Isaak und Rebekka (wir haben sie vorhin in der Lesung gehört), die von Jakob und Rahel, die von Mose und Zippora. Jedesmal waren die Frauen zum Brunnen gegangen, um Wasser zu schöpfen. Sie suchten nach Wasser und fanden den Mann der Verheißung, den Mann ihres Lebens.
Durch diese Liebesgeschichten des Alten Testamentes wissen wir, daß es Aufgabe vor alle der jungen Frauen war, für den Wasserbedarf der Großfamilie zu sorgen. In der Regel wurde diese Arbeit morgens und abends verrichtet. (Pause)
Nun gab es aber Frauen, die gingen auch mittags zum Brunnen. Einige waren sogar mehrfach am Tag unterwegs mit ihren schweren Wasserkrügen. Von diesen Frauen war bekannt, daß sie es nicht leicht hatten. Die meisten von ihnen waren nicht verheiratet. Sie waren somit gezwungen, ihren Lebensunterhalt durch diese schwere Arbeit zu verdienen.

Damals verbrauchten die Familien noch nicht so viel Wasser wie wir heute. Aber immerhin: Nicht nur die Menschen, auch das Vieh mußte mit Trinkwasser versorgt werden. Ganz zu schweigen vom Waschen und Kochen.

II.
Die Frau, von der uns das Johannesevangelium erzählt, war eine von diesen Frauen. Wir erfahren nicht viel über sie. Nur daß sie fünfmal verheiratet war und jetzt offenbar ohne Trauschein bei einem Mann lebte. Viele Ausleger haben gemeint, sie sei eine Sünderin, eine Ehebrecherin, ja vielleicht sogar eine Hure. Doch darüber sagt uns Johannes nichts. Die Situation der Frau lässt sich anders erklären:
Gewiss war es ungewöhnlich, daß sie fünfmal verheiratet war. Aber es gab damals Umstände, die ließen einer Frau keine andere Wahl. Nach einer Scheidung oder nach dem Tod des Mannes blieb Frauen kaum anderes übrig, als erneut zu heiraten. Denn für Frauen gab es nur wenige Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.
Fünfmal also stand die samaritische Frau vor einer solchen Situation. Fünfmal mußte sie wieder ganz von vorne anfangen. Und beim letzten Mal hatte sie offensichtlich keine gute Lösung mehr gefunden. Seitdem befand sie sich in einem rechtlich unsicheren Verhältnis. Der Mann, bei dem sie jetzt lebte, gewährte ihr nicht den Schutz der Ehe. Sie war gezwungen, sich durch beschwerliche Arbeit ›über Wasser zu halten‹.

III.
Den Tagesablauf der Frau kennen wir nicht. Wir wissen nur, daß sie täglich mehrfach zum Jakobsbrunnen ging. Dieser Brunnen lag etwa eineinhalb Kilometer von der Stadt Sychar entfernt. Und ich stelle mir vor, wie sie diese Strecke zurücklegte, jedesmal einen Fußweg von 15 bis 20 Minuten. Den schweren Krug mit etwa 14 Litern Wasser trug sie entweder auf dem Kopf, auf der Schulter oder auf der Hüfte. Besonders beschwerlich muß diese Arbeit im Sommer gewesen sein. Johannes berichtet uns, daß sich die Samariterin an jenem Tag in der Mittagshitze aufgemacht hatte zum Brunnen.
Auch wenn sie es zu verbergen suchte, sie war sicher unzufrieden, und ihre Situation suchte nach einem Ausweg.

IV.
Dies dürfte auch Jesus nicht entgangen sein, als er die Samariterin in der Mittagshitze herannahen sah. Er selbst hatte sich nach der langen Reise von Jerusalem am Brunnen niedergelassen. Seine Jünger hielten sich in der Stadt auf, um einzukaufen. Jesus und die Frau waren also allein. Sollte sich hier nun eine erneute Liebesgeschichte entwickeln?
Die Zeichen dafür standen schlecht. Jesus war ein Fremder und noch dazu ein Jude. Juden waren in Samaria nicht sehr beliebt, um nicht zu sagen verhasst. Es gab einen uralten Streit zwischen den beiden Völkern. Beide glaubten zwar an denselben Gott. Die Juden verehrten diesen Gott jedoch im Tempel zu Jerusalem. Die Samariter dagegen verehrten ihn auf dem Berg Garizim, den man vom Jakobsbrunnen aus sehen konnte. Außerdem warfen die Juden den Samaritern vor, daß sie auch den Glauben an andere Götter zuließen. Sie hielten die Samariter für unrein und mieden es, mit ihnen gemeinsam zu essen.
Die Samariter*innen hingegen hatten in ihrer Bibel nur die fünf Bücher Mose. Die Überlieferung der Propheten lehnten sie ab. Sie glaubten sich als die wahren Erben der Väter und wiesen die Vormachtstellung des Jerusalemer Tempels zurück.

Dies waren also schlechte Voraussetzungen für den Beginn einer Liebesgeschichte. Hinzu kam, daß jüdische Pilger häufiger auf dem Weg nach Jerusalem am Jakobsbrunnen Halt machten. Und nicht selten kam es dabei zum Streit mit den Samaritern. Grund genug also für die Frau, vorsichtig zu sein.
Und so, als hätte sie's geahnt, sprach der Fremde sie an. »Gib mir zu trinken!«, bat er. Ihre Antwort war kurz und knapp: »Du, ein Jude, willst von mir zu trinken haben?« Sie wußte noch nicht, was sie von diesem jüdischen Mann halten sollte. Ihm schien es nichts auszumachen, mit einer Samariterin aus einem Krug zu trinken. Außerdem fühlte sie sich erinnert an den Knecht Abrahams, der für Isaak auf Brautschau war und Rebekka mit denselben Worten angeredet hatte. Aber nein, dieser Mann war nicht auf Brautschau, und wie ein Knecht sah er auch nicht aus. Vorläufig beschloss sie, ihn ›Herr‹ zu nennen.
Er schaute sie geheimnisvoll an und sagte dann: »Wenn du wüßtest, wer ich bin, würdest du mich um lebendiges Wasser bitten.« Das klang reichlich vermessen. Natürlich wußte sie nicht, wer er war. Er hatte sich ja nicht vorgestellt. Und zunächst einmal traute sie nur dem, was sie sah: Ein Fremder erschöpft von der Reise. Hungrig und durstig saß er da, hatte nicht einmal ein Schöpfgerät, um an das Wasser des Brunnens heranzukommen. Was konnte der ihr schon geben? Und außerdem: War ihm das Wasser des Brunnens nicht genug? Immerhin war der Brunnen eine Gabe Jakobs. Er führte frisches Quellwasser – das beste weit und breit. Wollte er diese Gabe etwa in Zweifel ziehen und sich selbst darüber erheben?
Sie schaute den Fremden erwartungsvoll an. Und dieser sprach dann: »Jeder, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen. Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, der wird nie wieder Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm geben werde, in ihm zu einer Quelle von Wasser, das zum ewigen Leben sprudelt.«

V.
Die Samariterin schwieg. Die Worte hatten sie getroffen. Ja, so war es! Sie konnte Wasser holen, so viel sie wollte, der Durst blieb. Genau wie in ihrem Leben. Sie konnte sich anstrengen und abmühen. Immer wieder stand sie vor dem Nichts und mußte von vorne anfangen. Der Fremde hatte ihre innerste Verzweiflung auf den Punkt gebracht. Es stimmte, sie sehnte sich nach anderem Wasser, auch wenn sie noch nicht wußte, wie dies aussehen könnte.
So wie der Fremde zu ihr sprach, machte er den Eindruck eines Propheten. Eines Gottesmannes, der hinter die Dinge schauen kann, der die Gabe hat, die Menschen das Eigentliche sehen zu lassen.
Sie schaute erst zum Brunnen und dann zu ihrem Wasserkrug. Dann sagte sie mit fester Stimme: »Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe und nicht mehr hierherkommen muß, um zu schöpfen.« Gespannt wartete sie, was jetzt passieren würde. Was würde der geheimnisvolle Prophet ihr geben können? Doch Jesus sagte nur: »Geh, rufe deinen Mann und komme hierher.«

Liebe Gemeinde,
nach den großen Worten Jesu ist es ein wenig enttäuschend, wie Jesus reagiert: Er schickt sie weg, um ihren Mann zu holen, von dem versprochenen Wasser keine Spur. Und doch liegt in dieser Aufforderung etwas ganz Entscheidendes.
Ich möchte Ihnen das verdeutlichen anhand eines Bildes, das Rembrandt 1659 von der Begegnung am Brunnen gemalt hat:


Sie sehen links die Frau. Rechts am Rand befindet sich Jesus. Die Frau läßt das Schöpfgefäß an einer Kette in den Brunnen hinab. Der Brunnen ist tief und finster. Aus der Tiefe dieses Brunnen ist keine Rettung zu erwarten. Die Rettung kommt vielmehr von oben. Rembrandt hat sie in hellen, goldenen Farben gemalt. Dieses helle Licht durchflutet das dunkle Gewölbe. Das Entscheidende in Rembrandts Darstellung ist der Zwischenraum zwischen Jesus und der Frau. Es sieht so aus, als würde Jesus das Licht, das von oben kommt, auffangen und es bündeln. Dies ist das lebendige Wasser, das Jesus der Frau anbietet. Dieses goldene Wasser steigt auf und bildet ein Rechteck, das einem Spiegel gleicht. Jesus bündelt also das Licht und formt daraus einen Spiegel, den er der Frau entgegenhält.
In diesen Spiegel hatte Jesus die Frau gleich mit seiner ersten Antwort schauen lassen: Durch das helle Licht erkannte sie, wie dunkel der Brunnen war, aus dem sie schöpfte. Nun läßt er sie ein zweites Mal in den Spiegel schauen: »Geh, rufe deinen Mann und komme hierher.« So, als ob er sagen würde:
»Das lebendige Wasser kann nicht sprudeln, solange du von einem Mann ausgenutzt wirst, der dir noch nicht einmal die Absicherung eines Ehevertrages gewährt.«
Die Frau schaut in den Spiegel und antwortet: »Ich habe keinen Mann.« Dieser Satz ist für sie von entscheidender Bedeutung. Sie sagt damit, daß dieser Mann bisher nicht ihr Mann war und es auch künftig nicht mehr sein würde. Aus der Beziehung zu diesem Mann ist ihr weder Recht, noch Sicherheit, noch Würde erwachsen. Sie hat keinen Mann – das ist ihre Wirklichkeit. Durch die Begegnung mit dem lebendigen Wasser Jesu gewinnt sie die Kraft, ihre bedrückende Situation beim Namen zu nennen und sich davon zu befreien.
Johannes berichtet uns, daß die Frau – erfüllt von dieser Begegnung – in die Stadt zurückkehrte und dort viele durch ihr Zeugnis zu Christinnen und Christen wurden. Den Wasserkrug, das Zeichen ihrer Bedrückung, hatte sie am Brunnen zurückgelassen (V.28-29.39-42). Aus der dürstenden Frau war somit eine Botin des Evangeliums geworden. Auf der Suche nach Wasser hatte sie den Erretter gefunden (V.42). Eine Liebesgeschichte besonderer Art nahm ihren Anfang.

VI.
Liebe Gemeinde,
auch wir dürsten nach dem Wasser des Lebens, leben manchmal in bedrückenden Verhältnissen – sei es in der Familie, sei es am Arbeitsplatz. Die Lösung ist nicht immer einfach. Wichtig ist aber, die Not auszusprechen, nichts zu beschönigen, wo nichts mehr zu beschönigen ist. Vielleicht begegnet uns auf diesem Weg ganz unerwartet Jesus an einem Brunnen, um uns daraus lebendiges Wasser zu geben. Vielleicht erhalten wir die Chance, in einen Spiegel zu schauen, und danach die Welt mit anderen Augen zu sehen. Wann und wo? Selbst in der größten Hitze des Tages.
»Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.« Amen.