»Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.« Amen.

I.
Liebe Gemeinde,
in unserem Predigttext spielt ein Thomas die Hauptrolle. Er gehört zum engeren Kreis der Jünger um Jesus. Viel ist von ihm nicht bekannt, nur dass alle ihn »Thomas den Zwilling« nennen. Für mich ist das auffällig, wenn ein erwachsener Mann von seinem Zwillingsstatus her betrachtet wird. WAhrscheinlich ist es kein Zufall, wenn Thomas in unserem Predigttext als Zwilling vorgestellt wird.

Ich habe einmal geschaut, was Zwillinge so auszeichnet. Gefunden habe, dass sie in den ersten Monaten durch das meist geringere Geburtsgewicht gefährdet sind, besonders, wenn es sich um Frühgeburten handelt. Als Babys entwickeln Zwillinge häufig eine eigene Sprache und lernen dadurch die Sprache der Eltern etwas langsamer. Auch brauchen sie einige Monate länger, um sich selbst im Spiegel zu erkennen, weil sie meinen, ihren Zwilling dort zu sehen. In der Pubertät fällt es dann manchen Zwillingen schwerer, ihre eigene Identität zu entwickeln, weil sie immer im Zweierpack gesehen werden.
Einige Zwillinge entwickeln sich deshalb bewusst unterschiedlich, treten zeitweise sogar in starke Konkurrenz zueinander. Manchmal müssen sie sogar verschiedenen Wege einschlagen, um zu lernen, wie es ist, einen eigenen Weg zu gehen. Zwillinge haben also besondere Themen, die sie eventuell sensibler machen für Störungen, wenn es um die eigene Urteilsbildung geht.

II.
Der Zwilling Thomas aus unserem Predigttext spielt eine besondere Rolle im Kreis der Jünger. Er scheint ein ganz vernünftiger Kerl zu sein. Und das in zweierlei Hinsicht: Er entwickelt nicht nur eine gesunde Portion Skepsis, sondern steht auch mit beiden Beinen auf dem Boden. Während sich die anderen Jünger nach den dramatischen Ereignissen von Karfreitag ängstlich eingeschlossen haben, hält er sich außerhalb auf. Vielleicht hat er Lebensmittel besorgt, ist seiner Arbeit nachgegangen oder hat neue Kontakte geknüpft. Er versucht, einen klaren Kopf zu behalten und zu überleben.
Und die anderen Jünger Jesu? Als ihr Meister sie brauchte, haben sie geschlafen. Als ihr Meister verhaftet wurde, sind sie geflohen. Einer hat ihn verraten, ein anderer – Petrus – ihn dreimal verleugnet. Als Jesus am Kreuz starb, war laut Johannes nur einer der Jünger unter dem Kreuz anwesend. Begraben haben sie ihn nicht, das haben andere getan.
Eine Woche nach Ostern, nach dem Besuch der Frauen am leeren Grab, sitzen die Jünger Jesu in einem Haus mit verschlossenen Türen. Sie haben Furcht vor Repressalien durch die jüdischen und römischen Behörden. Sie sind völlig verunsichert darüber, wie es jetzt mit ihnen weitergehen soll.
Was wäre geschehen, wenn der Auferstandene nicht zu ihnen gekommen wäre? Irgendwann hätten sie ihr Versteck verlassen müssen. Sie wären vielleicht nach Galiläa zurückgekehrt und wären ihren alten Berufen wieder nachgegangen. Äußerlich hätte sich nichts geändert; nur ihr verletztes und verstörtes Inneres wäre wohl nicht so schnell wieder ins Gleichgewicht gekommen. Ihre Furcht wäre bis zum Lebensende geblieben und niemals wieder hätten sie unbedarft die Botschaft vom Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit verkündet.
Doch der Gekreuzigte erscheint ihnen persönlich und leibhaftig. Plötzlich ist er da. Er steht mitten unter ihnen in ihrem engen Versteck. Er macht ihnen keine Vorwürfe wegen ihrer großspurigen Versprechungen und ihrer späteren Feigheit. Er sagt ihnen einfach nur: »Friede sei mit euch!« Und diese Worte bedeuten, dass er seinen Jüngern vergibt und einen Neuanfang will. Jesus haucht sie an mit seinem Atem und sagt: »Empfangt den Heiligen Geist!«
Das ermutigt sie, ihr Versteck zu verlassen und die Gute Nachricht vom gekreuzigten, aber auferstandenen Christus zu verkündigen.

III.
Erst Thomas, der diese Szene nicht miterlebt hat, bringt zur Sprache, wie unwahrscheinlich das Ganze ist. Als ihm die anderen Jünger berichten: »Wir haben den Herrn gesehen, und das hat er zu uns gesagt«, wendet er ein: »Ich glaube es nur, wenn es der gekreuzigte Jesus war, der zu euch gekommen ist? Seid ihr sicher, dass ihr nicht getäuscht worden seid? Habt ihr die Finger in seine Wundmale gelegt und sorgfältig geprüft, was ihr zu sehen und zu hören bekommen habt?«

Liebe Gemeinde,
Thomas bestreitet nicht die Auferstehung. Er hinterfragt nur, ob sich der Gekreuzigte dem Jüngerkreis gezeigt hat.
Trotzdem ist Thomas als der ›Ungläubige‹ in die Kirchengeschichte eingegangen. Recht betrachtet könnten wir ihm aber auch den »Vorsichtigen« nennen. Denn angesichts der Berichte ist es gar nicht so abwegig, auf einer sorgfältigen Überprüfung zu bestehen. Schon dass einer, der tot gewesen ist, den Tod überwunden hat, ist ungeheuerlich. Aber erst recht sind es die Worte des Auferstandenen. Sie übersteigen bei Weitem das Maß dessen, was wir normalerweise zu glauben bereit sind:
»Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. (...) Wenn ihr jemandem die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben, wenn ihr sie jemandem behaltet, sind sie ihm behalten.«

Was Jesus hier sagt, hat eine ungeheuerliche Tragweite. Im Namen Gottes gibt er den Jüngern einen Auftrag und macht sie zu Aposteln, zu seinen Gesandten. Er haucht sie mit seinem Atem an, er haucht ihnen also gewissermaßen den Heiligen Geist ein. Und indem er das tut, bevollmächtigt er die Jünger, in seinem Namen Sünden zu erlassen oder nicht zu erlassen. Sie sollen über Heil oder Unheil entscheiden.
Der vorsichtige, ›ungläubige‹ Thomas hat anscheinend geahnt, was für eine Ungeheuerlichkeit da in seiner Abwesenheit geschehen war. Er musste auf einer sorgfältigen Prüfung bestehen. Denn wenn der Auftrag Jesu auf einer Täuschung beruhte, war es nichts anderes als eine ungeheure Anmaßung, zu der die Jünger sich hatten verleiten lassen. Und weil es dabei um Gottes Willen ging, durfte es in dieser Sache um keinen Preis zu irgendeiner Anmaßung kommen.


IV.
Liebe Gemeinde,
manchmal scheint es, als wäre das, was Jesus gesagt und getan hat, auch für uns Heutige kaum zu glauben. Als könnten wir diesen Auftrag nicht annehmen, den Jesus den ersten Aposteln und mit ihnen seiner ganzen Kirche gegeben hat. Dieser Auftrag beinhaltet Gottes bedingungsloses Ja zu unserem Leben. Und das können wir vielleicht noch nachvollziehen und weitersagen. Aber er beinhaltet auch Gottes Nein zu Zerstörung und Unrecht, Gottes Nein zur Ausbeutung seiner Schöpfung und zum sozialen Unrecht gegenüber Schwächeren, Gottes Nein zum verbreiteten Hass unter den Menschen.
Der vorsichtige, ›ungläubige‹ Thomas muss wohl geahnt haben, wie sehr es auf die Seriosität sowohl des Auftraggebers als auch der Auftragsempfänger ankommen würde. Denn es konnte allzu leicht der Eindruck entstehen, hier würde mit dem Namen Gottes Missbrauch getrieben.

V.
Eine Woche später, so berichtet es Johannes, waren die Jünger erneut hinter verschlossenen Türen versammelt. Und erneut tritt Jesus zu ihnen. Er fordert Thomas – den Skeptiker – auf, sich davon zu überzeugen, dass die Erscheinung des Gekreuzigten keine Sinnestäuschung war. Und Thomas wird wohl der Aufforderung Jesu nachgekommen sein, er wird die Wundmale betastet haben und sich überzeugt haben, dass es wirklich der Gekreuzigte war, der vor ihm stand. Unser Predigttext schweigt allerdings über den genauen Ablauf. Er berichtet lediglich, dass diese Prüfung damit endet, dass Thomas Gott für das Erfahrene mit einem Psalmzitat lobt: »Mein Herr und mein Gott!« (Ps 5,3; 84,4)
Für den vorsichtigen Thomas ist die Sache allem Anschein nach gut ausgegangen, und ebenso für die anderen Jünger. Was Jesus ihnen aufgetragen und zugesprochen hatte, hielt der Überprüfung stand: Es war keine Täuschung, was sich bereits eine Woche zuvor hinter verschlossenen Türen abgespielt hatte. Thomas durfte sich gemeinsam mit den anderen als von Christus gesandt wissen. Er durfte den Auftrag annehmen, im Namen Gottes und bevollmächtigt durch den Geist Gottes, das Ja und das Nein Gottes auszusprechen.

Aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Jesus antwortet noch einmal. Und er sagt: »Weil du mich gesehen hast, Thomas, hast du geglaubt. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!«

Liebe Gemeinde,
Vielleicht ist die Geschichte von Thomas, dem vorsichtigen Apostel, mehr als nur eine Geschichte am Rande der Osterereignisse. Wahrscheinlich ist sie eine Geschichte, die weit über die Person des Thomas hinausweist. Und zwar auf unseren Glauben heute, auf unsere Fragen: Wie wir glauben können, ohne Jesus jemals leibhaftig gesehen zu haben. Und wie wir als Kirche unserem Auftrag gerecht werden können, Gottes Ja und Gottes Nein zu bezeugen.
Und hier ist es gut, dass Jesus den Zweifel zulässt, den Thomas äußert. Und auch wir wissen: Glaube hat es immer auch mit Zweifel zu tun, weil er eben kein unmissverständliches Sehen ist.
Man könnte sogar formulieren: Der Zweifel ist der Zwillingsbruder des Glaubens.
Jesus macht dem Zweifler keinen Vorwurf, sondern preist diejenigen, die trotz und mit allen Zweifeln am Glauben festhalten.
In der Geschichte der Kirche wurden jedoch Zweifel nur selten geduldet. Sie wurden als ›Unglaube‹ abgetan und verfolgt. Dabei wurde vergessen, dass der Zweifel der mutige Bruder des Glaubens ist. Denn er fragt kritisch nach, zwingt den Glauben zu immer genauerem Nachdenken und zu einem heilsamen Maß an Demut. Da, wo auch Zweifel und Fragen laut werden dürfen, da kann auch der Zweifler eine Gemeinschaft finden, die ihn trägt und ihm wieder zum Glauben hilft.
Das Wort Jesu am Ende der Geschichte gilt deshalb auch beiden, den Zweiflern und den Glaubenden: »Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!«

»Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus.« Amen.