Predigt von Pastorin coll.  Carolin Zierath
am 24. Januar 2021

über Markus 4, Verse 35-41

Liebe Gemeinde,

Im März letzten Jahres, da hatte ich gerade mein zweites Theologisches Examen hinter mir. Da herrschte bei mir Aufbruchsstimmung. Da hatte ich plötzlich große Lust auf ganz vieles. Wollte Neues wagen, Dinge ausprobieren in der Gemeinde und in meinem privaten Leben. Ich wollte sozusagen in See stechen, mich aufs offene Meer wagen, denn die Sonne schien wieder, nachdem sie sich für mich lange Zeit von Wolken bedeckt hielt. Sie schien und es wehte  nur ein kleines, angenehmes Lüftchen über dem ruhig klaren Wasser.

Doch das änderte sich schlagartig. Plötzlich zog ein großer Wind auf. Die Wellen schlugen ins Boot. Der Sturm wühlte die See auf. Das Schiff fing an hin- und herzuschaukeln.  Immer  mehr,  immer  stärker, immer größer wurden die Wellen. Das Wasser  stieg  und  stieg.  Und  mit  ihm  meine Angst, als das Ausmaß der Corona-Krise immer deutlicher wurde.  Die  Angst  überflutete  mich  und schwappte  wie  hohe  Wasserwellen  in  mein Boot und in mein Leben hinein. Panik: Wie stehe ich, wie stehen wir, das durch und was wird da noch auf uns zukommen?

So erging es mir vor knapp einem Jahr und so ergeht es mir auch jetzt immer wieder, die Panik steigt auf, denn dieser Sturm, der wütet immer noch. Er ist noch immer nicht vorüber. Da stellt sich mir manchmal die Frage, wo ist Gott in diesem Sturm? Kümmert es ihn nicht, dass wir untergehen?

So fragten es sich damals auch die Jünger, als sie im Sturm mit Jesus auf dem See Genezareth unterwegs waren. Ich lese aus dem Markusevangelium Kapitel 4, die Verse 35-41, nach der Zürcher Übersetzung:

35 Und er (Jesus) sagt zu ihnen am Abend dieses Tages: Lasst uns ans andere Ufer fahren. 36 Und sie ließen das Volk gehen und nahmen ihn, wie er war, im Boot mit. Auch andere Boote waren bei ihm.
37 Da erhob sich ein heftiger Sturmwind, und die Wellen schlugen ins Boot, und das Boot hatte sich schon mit Wasser gefüllt.
38 Er aber lag schlafend hinten im Boot auf dem Kissen. Und sie wecken ihn und sagen zu ihm: Meister, kümmert es dich nicht, dass wir untergehen?
39 Da stand er auf, schrie den Wind an und sprach zum See: Schweig, verstumme! Und der Wind legte sich, und es trat eine große Windstille ein.
40 Und er sagte zu ihnen: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?
41 Und sie gerieten in große Furcht, und sie sagten zueinander: Wer ist denn dieser, dass ihm selbst Wind und Wellen gehorchen?

Liebe Gemeinde,

Menschen brechen auf. Sie steigen in ein Schiff. Sie brechen auf zur Fahrt über einen See. Es sind mehrere Schiffe. Die Menschen in einem der Boote nehmen Jesus mit auf die Fahrt.
Zunächst ist alles wie immer: Sie kommen voran. Die Boote fahren über das Wasser. Doch dann wird es ungemütlich: Ein Sturm kommt auf. Und er wird immer schlimmer. Er wird so schlimm, dass die Menschen Todesangst bekommen. Das Wasser schwappt ins Boot, der Mast schwankt, der Sturm heult und der Untergang droht. Wir sind in Gefahr unterzugehen, sagen die Jünger, schreien sie gegen den tosenden Wind. Lange geht das hier nicht mehr gut, bald ertrinken wir alle. Was ist denn mit Jesus? Wo ist er?
Jesus schläft im Heck des Bootes. Er scheint nichts mitzukriegen. Während draußen die Welt untergeht, liegt Jesus bequem auf einem Kopfkissen und ist nicht aus der Ruhe zu bringen. Krasser kann ein Gegensatz kaum sein: Hier der drohende Untergang, dort der schlafende Jesus. Sie wecken ihn. Sie schreien: Ja, schert es dich denn gar nicht, dass wir untergehen? Kümmert dich unser Schicksal nicht? Wie kannst du schlafen, während wir absaufen?

Die verzweifelten Rufe wecken Jesus auf. Und was tut er?
Als allererstes beendet er die Katastrophe, in der sie sich befinden. Er droht dem Wind und sagt zum See: Schweig!
Und wieder entsteht ein Gegensatz, der stärker kaum sein könnte: Aus Sturm und Tosen wird völlige Stille.
Der schlafende Jesus und die Stille – zwei Gegensätze, die in dieser Geschichte besonders auffallen.
Jesus zeigt da eine sehr menschliche Seite von sich, wenn er schläft. Es ist übrigens auch die einzige Stelle in der Bibel, wo davon berichtet wird, dass er so etwas tut. Während die Jünger dem schrecklichen Sturm ausgesetzt sind, schläft Jesus – und zwar auf einem Kopfkissen (V. 38). Dieses Kissen legt von den Synoptikern nur Mk unter Jesu Kopf. In der Geschichte von der Sturmstillung bei Matthäus und Lukas ist es nicht zu finden. So wird der Gegensatz zwischen der Bedrohung durch den Sturm und dem Schlaf von Jesus noch greller und erklärt die Frustration und Empörung der Jünger.


Das Thema des schlafenden Jesus, des schlafenden Gottes, berührt mich sehr. Es steht hinter dieser Vorstellung eine große Verzweiflung. Wenn es ganz schlimm ist und keine Hilfe in Sicht, dann ist dies einer der Auswege, um sich zu erklären, warum das Elend kein Ende nimmt. Gott hat noch nicht eingegriffen. Er schläft und bekommt die Katastrophe nicht mal mit.
Und dann, zum Glück: sein Eingreifen, endlich, und die große Windstille. Eine Stille folgt.
Und ich frage mich, wie diese Stille wohl gewesen ist. War das so eine gespannte Stille, wie wenn der Lehrer die Schüler anschnauzt und die sich nicht mehr trauen zu stören? Oder war das eine friedliche Stille, eine zufriedene Stille, weil alle Last und Angst von einem abfällt? Und was ermöglicht Stille eigentlich?
Sie bietet ein Moment des Innehaltens und des Bewusstwerdens. Den Jüngern wurde in dem Moment klar, dass sie nicht genug vertraut haben, dass es ihnen an Glauben fehlte.
Schaut man einmal auf die Zeit, zu der die Geschichte aufgeschrieben wurde, lässt sich besser verstehen, welche Erfahrungen dahinter stecken. Der Mensch, den wir Markus nennen und der diese Geschichte vor 2000 Jahren aufschrieb – dieser Markus hatte unmittelbar bevor er sein Evangelium schrieb, Schreckliches erlebt. Er ist geprägt von den Erfahrungen des sogenannten „jüdischen Krieges“. In der damaligen Provinz Palästina hatte es einen Aufstand gegen die römische Besatzung gegeben. Der Aufstand wurde niedergeschlagen und das römische Militär übte furchtbare Rache. Es handelte sich um regelrechte und wiederholte Massaker: Massenkreuzigungen, wahlloses Abschlachten, Versklavung. Insbesondere der See Genezareth war Schauplatz eines solchen Geschehens: „Im Spätsommer des Jahres 67, das schildert der Geschichtsschreiber Josephus, waren bei der Eroberung der am See gelegenen Stadt Tarichea durch die Römer viele Aufständische mit Booten hinaus auf den See geflohen; ihre weit überlegenen Gegner hatten den Flüchtlingen nachgesetzt und sie systematisch massakriert. Der ganze See sah aus, wie von Blut gerötet und wie von Leichen angefüllt, denn niemand konnte sich retten. Die ganze Gegend litt in den folgenden Tagen unter einem fürchterlichen Gestank und bot ein grässliches Bild. (…) 6700 Menschen fanden den Tod.“[1] So berichtet es Flavius Josephus.

Genau dort, wo unsere Geschichte spielt, am See Genezareth, wurden an einem einzigen Tag Tausende von Menschen regelrecht abgeschlachtet. In genau solchen Situationen stellt sich die Frage: Wo ist Gott?
Eine mögliche Antwort ist wie gesagt: Gott schläft. So wie Jesus in der Geschichte.
Aber Jesus fragt nach seinem Eingreifen im Gegenzug in der Geschichte zurück: Habt ihr kein Vertrauen?
Ich würde ihm darauf nun antworten: Nein, Jesus, wir haben nicht immer Vertrauen. Manchmal ist das verdammt schwer mit dem Vertrauen, wenn so viele schreckliche Dinge geschehen, oder wenn es in unserer Seele finster ist. Vertrauen muss wachsen. Und Vertrauen wächst, wenn wir erfahren, dass es diese große Kraft gibt, die uns hilft. Es gibt Rettung, es gibt Hilfe, wir finden einen Ausweg und wir überwinden die Panik. Die Hilfe schläft nicht.
Jedes Mal, wo wir das erleben – jedes Mal hilft uns eine solche Erfahrung zu vertrauen. Eine solche Erfahrung hat immer etwas Wunderbares. Sie verändert uns. Darum schreibt Markus diese wunderbare Geschichte auf. Trotz allem Schrecklichen, was den Menschen am See Genezareth passiert ist hat er erfahren dürfen, dass Gott nicht schläft, sondern aufsteht und hilft. Diese Erfahrung will er teilen, damit Vertrauen und Glaube wachsen kann. Er will uns zeigen: Du musst dich nicht mit dem abfinden, was ist. Nicht mit Ausweglosigkeit, nicht mit mangelnder Perspektive, nicht mit Gewalt, Panik, Frust. Geh zu Jesus und gib es bei ihm ab. Und vertraue darauf: Es besteht immer die Möglichkeit, dass Jesus aufsteht und handelt. Das ist das Wunder, das Wunderbare!

Und es ist besonders wichtig, dass wir uns das in der jetzigen Zeit immer wieder bewusst machen, wenn wir betrübt und frustriert sind und wohlmöglich denken: Gott, der schläft doch.
Es besteht immer die Möglichkeit, dass Jesus aufsteht und handelt, darauf dürfen wir vertrauen. Und so können wir die Frage der Jünger am Ende des Textes beantworten: Wer ist denn dieser, dass ihm selbst Wind und Wellen gehorchen?
„Dieser Jesus, ER ist der Grund meines Vertrauens.“

Amen.

[1] Andreas Bedenbender, Frohe Botschaft am Abgrund, Das Markusevangelium und der Jüdische Krieg, Leipzig 2013, S. 219.