Weihnachtspredigt an Heiligabend 2022 von Pastor Christoph Rehbein

Liebe Gemeinde am Christfest,

vor einigen Tagen sprach ich mit jemandem über den Erfolg dieses Liedes. Seine Meinung dazu: Das liegt an der Melodie. Deren Rhythmus man abspüre, dass sie weiter südlich komponiert wurde. Auf einer sonnigen Insel im Süden Italiens: Sizilien.

Da ist sicher viel dran.

Ich habe meine Meinung daneben gestellt, dass auch der einfache Text seinen Teil zum Erfolg beiträgt.
O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit. Welt ging verloren, Christ ist geboren. Freue dich, o Christenheit.

Wie geht es Ihnen mit diesem Lied? Können Sie es aus vollem Herzen mitsingen?
Die meisten Menschen hier bei uns sind ja so gebaut, dass sie das Nachdenken selten abschalten können. Schon gar nicht lassen wir uns - sozusagen per Knopfdruck  - auf Weihnachten programmieren.
Freue dich, o Christenheit – Herr, bin ich mitgemeint?
Kann auch ich mich mitfreuen?
Es ist ja immer noch allzu wahr, was da vor vor über 200 Jahren, im Jahr 1816, in Weimar gedichtet wurde: Welt ging verloren.
Kaum hat man sich von der Geißel der Pandemie ein wenig erholt, folgen in diesem Jahr ständig neue schlimme Nachrichten: Aus der Ukraine vor allem. Aus Katar, wo in erster Linie die angereisten Marokkaner und Argentinier Freude am Dasein hatten. Aber auch aus Sharm-el-Sheikh von der wiederum enttäuschenden soundsovielten Klimakonferenz.
Bei uns machen verzweifelte junge Mitmenschen, die sich Letzte Generation nennen, durch Klebe-Aktionen auf sich aufmerksam.
Und damit auf die zu langsame Kursänderung der Politik.
Mir kommt in diesen Zeiten wieder ein treffender Spruch aus den achtziger Jahren in den Sinn:
„Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt.“

Mit unseren Kindern und Großkindern feiern wir Weihnachten, alle Jahre wieder.
Kinder stehen auch im Mittelpunkt des Liedes, über das ich heute predigen möchte: O du fröhliche.
In der Zeit seiner Entstehung hatten viele Menschen ein ähnliches Lebensgefühl: Welt geht verloren.
Und dann schreibt da jemand ein Lied gegen die Resignation. Da stimmt ein Mann in Weimar eine Gegenbewegung an, die mit Kindern beginnt. Johannes Falk ist sein Name. Ich habe ein Foto an der Kanzel befestigt, das ich in Weimar auf dem Friedhof gemacht habe. Darauf steht zu lesen:
Weil er Kinder angenommen, lass ihn einst zu allen Frommen als dein Kind auch zu dir kommen.
Beziehungsreiche Sätze, die uns eine Spur der Biografie des Dichters aufnehmen lassen. Im Jahr 1816 flossen dem gelernten Pädagogen Johannes Falk die Zeilen für unser Weihnachtslied in die Feder.
Für die Kinder des Lutherhofes, eines bei Weimar von ihm begründeten Kinderheimes. In einer Zeit, in der es alles andere als fröhlich zuging.

Aufschlussreich ist der Werdegang dieses Mannes.
In der ersten Hälfte seines Erwachsenenlebens macht er sich hauptsächlich als satirischer Dichter einen Namen. Aus Danzig stammend, Sohn eines Perückenmachers, hat er in Halle studiert. Und seine große Intelligenz und Schlagfertigkeit an der Universität noch ausgebaut. Er bespöttelte die dortige Stadtverwaltung und besonders deren Kulturprogramm.
So wurde Falk aus Halle ausgewiesen und zog nach Weimar.
In die damalige Hauptstadt des Sturm und Drang.
Hier lernt er die Dichter Wieland und Goethe kennen.
Und hier ändert sich die Richtung.
Die Bestimmung, das Ziel seines Lebens wird klarer.
Es ist die Zeit Napoleons.
Das bedeutet militärische Niederlagen der Preußen gegen die Franzosen bei Jena und Auerstedt.
Aus dem beschaulichen Weimar wird eine Stadt, in der die Angst regiert. Und viele Geflüchtete sind dort unterwegs.
Siegreiche Soldaten beschaffen sich mit dem Faustrecht, was ihnen fehlt. Und was sie darüber hinaus besitzen wollen.
Das Allerschlimmste ist das Elend elternloser Kinder, deren Väter gefallen und Mütter verschollen sind. Sie stecken täglich im Kampf um das Überleben.
Mitten in all diesen schwierigen Umständen ist Johannes Falk mittlerweile als Dichter sehr anerkannt. Im Jahr 1813 jedoch treffen ihn schwere persönliche Schicksalsschläge: Binnen eines Monats sterben vier seiner sieben Kinder an der Pest. Er selbst liegt ebenfalls wochenlang darnieder.
Aus tiefster Not ruft er zu Gott und ihm kommt eine Erkenntnis.
Ich zitiere wörtlich: „Erst als ich merkte, wie hart Gott gegen mich sein musste, da bin ich barmherzig geworden.“
Stück für Stück setzt Falk diese Einsicht nach seiner Genesung um.
Da seine Vorfahren mütterlicherseits aus der französischsprachigen Schweiz stammten, beherrscht er die Sprache der Besatzungstruppen in Weimar.
Der französische Stadtkommandant heißt Villain. Ihm bietet er sich als Dolmetscher an, um die schlimmsten Übergriffe zu verhüten.
Immer klarer wird ihm, dass sein Platz nicht länger am Schreibtisch ist. Wer wollte schon Spottverse und Satiren lesen in dieser harten Zeit?
Johannes Falks große Lebensaufgabe werden die herumstreunenden Kinder. Seine pädagogischen Fähigkeiten werden wieder wach. Besonders sein Erzähltalent, mit dem er die Nähe der verschreckten Kinder gewinnt.
Er kauft mit der Hilfe von Förderern, die sich Freunde in der Not nennen, ein Gebäude: Ein halbverfallenes Schloss des Grafen von Orlamünde in der Nähe Weimars. Martin Luther hatte einmal dort übernachtet. So dass es für würdig befunden wurde, den Namen zu erhalten, den es bis heute trägt: Lutherhof.
Die Inschrift über dem Eingangstor lautet:
Nach der Schlacht von Jena, Lützen und Leipzig erwarben die Freunde in der Not durch 200 gerettete Knaben dieses Haus dem Herrn zu einem Dankaltar.
Die Jugendlichen selbst legen mit Hand an.
Heute nennt man so etwas ganzheitliche Pädagogik.
Goethe soll bei einem Besuch im Lutherhof zu einem Begleiter gesagt haben: „Was Falk kann, das können wir beide nicht.“
Es kommt das Jahr 1816 und mit ihm das Weihnachtsfest.
Wieder erkrankt Johannes Falk. Er dachte, es würde sein letztes Christfest werden. Dabei ist es für etliche Kinder das erste, dass sie in einer gewissen Geborgenheit würden feiern können.
Doch fehlt es an geeigneten Liedern.
Ihr Kinderlein kommet - das gab es erst seit 5 Jahren.
Bis Weimar war es noch nicht vorgedrungen.
Da kommt Johannes Falk ein Text in den Sinn.
Von dem er noch nicht ahnt, dass er ihn berühmt machen wird.
Der ihn aber selbst wieder so aufrichtet, dass er noch 10 Jahre lebt.
(Bis er im Alter von 57 Jahren verstirbt - im Februar 1826)

O du fröhliche, o du selige gnadenbringende Weihnachtszeit!

Die Melodie ist möglicherweise von Goethes Freund Herder aus Sizilien mitgebracht worden. Sie stammt wohl von einem italienischen Fischerlied.
Melodie und Text passen unkompliziert zusammen.
Das Lied kann mit allen Kindern gesungen werden, laut und fröhlich!

Und Johannes Falk lässt an jenem Heiligen Abend vor 206 Jahren drei große Weihnachtsbäume im Lutherhof aufstellen. Die sollten an die drei großzügigen Danziger Ratsherren erinnern, die seinerzeit sein Studium finanziert hatten. Das Studium, das sein Vater, der Perückenmacher, nicht bezahlen konnte.
Die Mahnung der drei Herren war Falk sein Leben lang nicht aus dem Sinn gegangen: „Johannes, du bleibst unser Schuldner. Wenn einst arme Kinder an deine Tür klopfen sollten, so denke, wir sind es, die alten Ratsherren von Danzig, und weise sie nicht ab.“
Ein Kreis hat sich geschlossen und ich denke, der Himmel hat Regie geführt, liebe Gemeinde.

Sie ist gekommen, auch dieses Jahr, die gnadenbringende Weihnachtszeit. Gnade, das ist das Hauptwort der ersten Strophe. Die Gnade wird uns gebracht, indem wir, wie Paulus es im Galaterbrief sagt – wir haben es soeben in der Lesung (Galater 4,4-7) gehört -, indem wir die Kindschaft empfangen, indem wir durch die Geburt Jesu selbst Kinder werden, mit offenen Sinnen, mit offenen Händen für Gottes Gnade.

Welt ging verloren, Christ ist geboren.

Das hält am Ende alles in der Waage! Das hält auch heute heimatlose Kinder am Leben! - Die Geburt des Menschensohnes in einer Felsenhöhle bei Bethlehem, sie ist ein Signal gegen jede Resignation.
Weil Gott selbst für uns einen neuen Anfang möglich macht, jedes Jahr, feiern wir Weihnachten, regelmäßig wiederkehrend. Das brauchen wir!
Gottes Gnade wird uns in Erinnerung gerufen, sie wird uns in jener Nacht von Bethlehem vor Augen und Ohren geführt. Sie wird sichtbar und hörbar für alle unsere Sinne.

Welt geht verloren, aber Gottes Gegenbewegung hat längst begonnen, mitten in jener Nacht.
Unser Schöpfer ist auch unser Erlöser.
Er meint es anders mit uns, als der Zustand der Welt es zu spiegeln scheint: Sein Stern geht auf über dem Neuanfang des Lebens.
Sein Licht wärmt die Verletzlichkeit, die Unschuld, die Armut, die Menschlichkeit. Sein Licht lässt alle Gewalt, allen Hass, alle Feindschaft erkalten. Es verlässt jene, die sich selbst für Richter halten, und lässt sie im Dunkeln zurück.

Welt ging verloren, Christ ist geboren.

Wir können neu anfangen, dieses Licht in uns aufzunehmen und weiterzutragen.
Falks Mitarbeiter Heinrich Holzschuher hat das Lied weitergedichtet:

Christ ist erschienen, uns zu versühnen.
Himmlische Heere jauchzen Dir Ehre.

 Beide Strophen verstärken die Kraft, die in uns einströmen wird.
Wenn wir uns verbinden mit allen anderen Kindern auf der Welt.
In unseren Gedanken und Gebeten.
Unseren Einsatz für die Zukunft aller Kinder verstärkend.
Ich möchte schließen mit einem letzten Blick auf das Foto von Falks Grab.
So ganz leicht ist es nicht zu entziffern.
Rosalie Falk war die Tochter des Dichters.
Ganz unten rechts wird an den Enkel Alexander erinnert:

geboren und verstorben in New York, Nord Amerika.
Darunter steht: Die Erde ist überall des Herrn.
Dem ist nichts hinzuzufügen.

Ehre sei Gott in der Höhe
und Friede auf Erden
bei allen Menschen seines Wohlgefallens.

Amen.