Predigt am 26. Juli 2020

I. Einführung
Seit Tagen waren wir unterwegs durch die Steppe. Vor uns tauchte ein Massaidorf auf. Runde Hütten, umgeben von einem Dornenwall, in der Mitte die Tränke. Als wir näher kamen, richteten sich viele Blicke auf uns. Aber nur der Dorfälteste kam uns entgegen. Er musterte uns eine Weile; dann grüßte er mit erhobenem Arm „Pole sa safari“ – „Mein Mitgefühl für die Reise“. Dann wies er auf eine der Hütten. „Karibu chai“ „Willkommen zum Tee!“ Das Zauberwort war gesprochen. Die Kinder umringten uns und zeigten auf alle erdenkliche Weise ihre Neugier. Schneller als wir uns versahen, wurde aus dem Tee ein kleines Mahl: Fladenbrot, Hühnchen und ein frisch gebackenes Ei. Als wir den Gral später verließen, begleitete der Älteste uns noch ein Stück des Weges und zeigte mit seinem Stock die Richtung, der wir folgen sollten. Wir hatten eine uralte Wahrheit am eigenen Leib erfahren: Ohne Gastfreundschaft kommt man nirgendwo an.

II. Predigttext
So wie dieser kleine Reisebericht aus Ostafrika von einer Reisegruppe die Besonderheit und Wichtigkeit der Gastfreundschaft zum Ausdruck bringt, so spielt die Gastfreundschaft auch in der Bibel eine bedeutende Rolle.

Im Predigttext für den heutigen Sonntag steht dazu im Brief an die Hebräer 13,1-3, ich lese aus der Zürcher Übersetzung:
1 Die Liebe zu denen, die euch vertraut sind, bleibe!
2 Die Liebe zu denen, die euch fremd sind, aber vergesst nicht - so haben manche, ohne es zu wissen, Engel beherbergt.
3 Denkt an die Gefangenen, weil auch ihr Gefangene seid; denkt an die Misshandelten, weil auch ihr Verletzliche seid.

III. Xenophilia im alten Orient
Ein wichtiges Wort dieses Textes lautet im Griechischen „xenophilia”, die Freundlichkeit und Liebe gegenüber dem Fremden – also dem, der bei uns eigentlich nicht zu Hause ist. Wir übersetzen das heute meist mit Gastfreundschaft.

Doch was mich hier verwundert, wieso muss an dieser Stelle darin erinnert werden, gastfreundlich zu sein? Denn in meiner Vorstellung war im damaligen Orient die Gastfreundschaft etwas Selbstverständliches, sie war sozusagen eine notwenige gesellschaftliche Überlebensstrategie: Denn was machte ein Wanderer in einem unwirtlichen Gebiet in den Wüstenregionen Israels, wenn ihn keiner aufnahm, ihm Wasser und etwas zu Essen gab? Weit und breit kein Imbiss, kein Gasthaus. Der hatte keine Chance. Also erscheint mir für die damalige Zeit Gastfreundschaft als eine wichtige Tradition, die man gerne anbietet und über die man heilfroh ist, wenn man sie einmal selbst benötigt und angeboten bekommt. Eben etwas Selbstverständliches.

IV. Die Situation in der Gemeinde der Hebräer
Aber so selbstverständlich schien sie nicht geblieben zu sein, sie geriet in Vergessenheit, so macht es jedenfalls den Eindruck, wenn wir unseren Predigttext betrachten.
„Die Liebe zu denen, die euch fremd sind, aber vergesst nicht!“

Woran lag das? Das lässt sich besser verstehen, wenn man den Text in seinem Gesamtzusammenhang betrachtet. Dieser Text steht im letzten Kapitel des Briefes an die Gemeinde der Hebräer. Der Verfasser, der im Namen Paulus auftritt, will den Hebräern noch einige gute Ratschläge mit auf den Weg geben. Das klingt nicht sehr aufregend, doch es gewinnt an Brisanz, wenn man bedenkt, dass es an Christen geschrieben ist, die inzwischen schon eine ganze Strecke auf dem Weg des Glaubens gegangen sind und merken, mit wie viel Widerstand das verbunden ist. Immer wieder schreibt der Apostel von der Demütigung, die die Gläubigen ertragen müssen. Sie wurden unfreundlich behandelt, sie mussten Widerwärtigkeiten ertragen, sie wurden in die Enge gedrängt und ausgegrenzt. Ihnen ging immer mehr die Luft aus, sie spürten das Schwinden ihrer Glaubens- und Hoffnungskräfte. Und deshalb will der Apostel dazu motivieren, zugewandt, einladend und großzügig zu bleiben. Auch wenn er weiß, dass es unter diesen Umständen besonders schwer ist.
Er wirbt darum mit einer besonderen Aussage um das Durchhalten seiner Gemeinde und um ihre Gastfreundschaft. So haben wir im Predigttext gehört: „Die Liebe zu denen, die euch fremd sind, aber vergesst nicht - so haben manche, ohne es zu wissen, Engel beherbergt.“

V. Engel beherbergen
Wie ist das gemeint, Engel beherbergen?
In der Bibel gibt es einige Stellen zur Gastfreundschaft. Von der einen haben wir eben in der biblischen Lesung von Genesis 18 gehört. Drei Männer besuchen Abraham und Sara. Und beim Hören sind wir vielleicht darüber gestolpert, dass Gott in diesen Gesprächen vor dem Zelt des Abraham mitredet, und ihnen die Geburt des langersehnten Sohns ankündigt. Und wenig später wurde diese Ankündigung wahr.

Engel beherbergen, das bedeutet Begegnungen und Gespräche, die mehr sind, als das, was sie auf den ersten Blick scheinen. Weil sich in dieser Begegnung mit dem Fremden neue Horizonte eröffnet haben. Neue Lebensperspektiven kamen hinzu – man fasste Mut zu Veränderungen. Wer weiß, was gewesen wäre, wenn Abraham die drei Männer abgewiesen hätte? Hätte es eine zweite Chance gegeben? Wir wissen es nicht.

Dass Gott durch andere Menschen, durch die Hilfebedürftigen bei uns zu Besuch kommt, dieser Gedanke zieht sich durch die Bibel hindurch bis in das Neue Testament. Ich denke an Jesu Worte aus Matthäus 25, den sogenannten Werken der Barmherzigkeit: „Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen” – und die Angesprochenen können sich nicht erinnern, ihn, Jesus, je zu Gast gehabt zu haben – und er antwortet: “Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.”
Gastfreundschaft – liebe Gemeinde, das ist mehr als eine freundliche, mitmenschliche Geste oder eine soziale Verpflichtung. Das hat viel damit zu tun, wie wir uns selbst verstehen, wie wir unseren Glauben deuten. Wenn jeder Mensch ein Ebenbild Gottes ist, ein von ihm geliebtes Geschöpf, dann gehört die Offenheit ihm gegenüber zum Glauben dazu. Dann ist Gastfreundschaft, wie die Nächsten- und Feindesliebe, eine grundlegende Aufgabe für uns Christen.
Eigentlich!
Denn schon in biblischen Zeiten war das nicht immer so einfach, wie wir dem Predigttext entnommen haben. Wen wundert‘s? Uns geht es ja oft nicht anders.

VI. Gastfreundschaft heute
Das fängt schon im Kleinen an. Da steht jemand, den ich kenne, in der Tür. Er will nur kurz was besprechen. Ist vorbeigekommen, ohne es vorher per Telefon abzusprechen oder per What’sApp durchzugeben. Das ist ja schon eine Seltenheit heutzutage. Und da fällt mir auf: Die Wohnung ist unaufgeräumt, überall liegt was rum. Der Esszimmertisch – also da, wo man sich jetzt schnell mal zusammensetzen könnte – stapeln sich grade alte Zeitungen und ein halb geöffnetes Paket, das die Post vorhin gebracht hat. Außerdem habe ich in 15 Minuten wieder einen Termin. Mist – also bitte ich den Gast nicht herein, sondern fertige ihn an der Türe ab.
Noch tiefer sitzt die Angst, dass Gastfreundschaft missbraucht wird. Wenn da einer mit einem Zettel “suche Arbeit im Garten” vor der Türe steht oder uns etwas anderes aufdrängen will. Das könnten Betrüger sein. Da muss man vorsichtig sein, zu Recht. Ja, die Gastfreundschaft hat es nicht leicht. Man muss gut aufpassen. Aber manchmal muss man sich auch einfach mal einen Ruck geben. Offen zu sein, für die Fremden, wie auch für die nicht ganz so Fremden. Denn heutzutage ist manchmal der eigene Nachbar oder Nachbarin schon gefühlt vom anderen Planeten. Wieso nicht einfach mal die Nachbarin beim nächsten Mal auf eine Tasse Kaffee reinbitten, wenn sie vor der Tür steht, um ihr Päckchen abzuholen?

VII. Gott Nahe sein
“Vergiss die Gastfreundschaft nicht” sagt mir die Bibel. Und manche Gastfreundschaft vergesse ich wirklich nicht. Nämlich die, dir mir selbst widerfahren ist. Zum Beispiel als ich eigentlich nur meine Tochter bei Freunden vom Spielen abholen wollte. Da werde ich plötzlich in die Küche gebeten, mit einer Bewegung wird der ganze Krempel auf dem Tisch zusammengeschoben, so dass Platz wird, für mich und meine Tochter, um zum Abendessen zu bleiben. Es folgt eine ausgelassene Stunde mit guten Essen, toller Gemeinschaft und tiefen Gesprächen, die allen gut getan hat. Diese unerwartete Gastfreundschaft tut gut, weil die offene Tür noch so viel mehr geöffnet hat.

Liebe Gemeinde,
wenn ich daran denke, was uns stärkt, was uns Kraft gibt, den nächsten Schritt zu gehen, auch die unangenehmen Tage zu durchschreiten, dann sind das nicht die aufwendigen und komplizierten Dinge. Nein, es sind in der Regel die ganz elementaren Dinge. Es ist die Hand, die ich ergreifen kann. Es ist die Verbundenheit, die ich spüre. Es ist ein Lächeln, das mich erreicht.
Eine zugewandte, offenherzige Lebensweise lässt immer wieder Erfahrungen des Wunderbaren machen, auch wenn wir es in dem Augenblick nicht wirklich realisieren, weil das Wunderbare oft so alltäglich daherkommt. Die Nachbarin kann da zu einem Engel werden. Aus ihren Worten kann ich die Worte Gottes vernehmen, da kann sich mein Herz und der Himmel über mir weiten. Was für ein Reichtum könnte sich uns öffnen, wenn wir unsere Tage so leben könnten. Gastfreundlich, in der Offenheit für die Begegnung mit dem Überraschenden, für das Erstaunliche, das uns zeigt, dass wir Teil von etwas viel Größerem sind als wir selbst.

Dann könnten auch wir, wie die Reisegruppe in Ostafrika, von der wir zu Beginn der Predigt gehört haben, diese uralte Wahrheit am eigenen Leib erfahren: Ohne Gastfreundschaft kommt man nirgendwo an. Mit Gastfreundschaft bin ich Gott ganz nah. Amen.