Predigt von Pastor Christoph Rehbein über das Hohelied 2, 8-14 im Eilenriedestift am 4. Dezember 2022 (2.Advent)

 

Liebe Gemeinde,

Überraschung! Sie kennen ganz andere Texte im Advent.
Ankündigungen des Messias zum Beispiel wie aus dem Buch Jesaja:

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht!

Ein Liebeslied -  das kommt jetzt ganz unerwartet.
Und dann auch noch ein richtig schönes, zärtliches – mit so einigen erotischen Anklängen...

Liebe zweier Menschen, unwiderstehliche Anziehungskraft, kaum präzise zu erklären. Viel leichter und schwungvoller mit der Kraft der Poesie zu beschreiben…Und mit ihrer Leichtigkeit…

Das Hohelied Salomos entstand wohl erst im dritten Jahrhundert v. Chr. Auf Hebräisch das Schir Haschirim, das Lied der Lieder. Zugeschrieben einem König, dessen Weisheit gerühmt wurde durch die Jahrhunderte. Aber ist es auch weise, liebe Adventsgemeinde, damit Frühlingsgefühle zu wecken? Mitten im kalten Winter, wo die Nächte so unendlich lang sind?
Genau darüber gab es Streit, nachdem die liturgische Kommission der EKD die neuen, noch unentdeckten Predigttexte festgelegt hatte.
Ein prominenter Kritiker bemängelte, so ein Frühlingslied passe nicht in den Dezember. Advent, das sei darüber hinaus doch eher eine Zeit des Innehaltens, der Besinnung.
Dagegen wurde gehalten, gerade der Advent böte eine gute Gelegenheit, ganz frisch und neu hinzuhören. Ich finde, diese Seite hat recht!

Wir kommen so auf Texte, die man in der Bibel kaum erwartet.
Wo wie hier ganz unverhüllt die leibliche Liebe eines Liebespaares besungen wird. Wie ein Nachgeschmack des Paradieses. Oder wie ein Vorgeschmack auf künftige himmlische Wonnen.
Die beiden Verse direkt vor unserem Predigttext wurden uns beim Beschnitt der Perikope vorenthalten:

Erfrischt mich mit Äpfeln, denn krank bin ich vor Liebe. Seine Linke liegt unter meinem Haupt, und seine Rechte umarmt mich. Ich beschwöre euch, ihr Töchter Jerusalems: Weckt nicht, stört nicht die Liebe, solange die Lust währt.

Liebe Gemeinde im Eilenriedestift,
Sollten ihre Großsöhne oder Urenkelinnen nach Anregungen für Liebesbriefe suchen, dann empfehlen Sie Ihnen bitte dieses Lied der Lieder. Versteckt in der Heiligen Schrift zwischen den Sprüchen und dem Prediger Salomo davor und dem ersten großen Prophetenbuch direkt danach: Jesaja. Man könnte nun fragen: Wie konnte so viel Liebeslust in der Bibel überleben? Oder eher theologisch: Was qualifizierte erotische Poesie für den Kanon der Heiligen Schrift?

Die Antwort lautet: Allegorie. Also die bildliche Deutung.
Die entscheidenden Synagogen- wie Kirchenväter sahen solches Liebeswerben zwischen Gott und Israel, zwischen Christus und der Gemeinde. So überlebte das Salomo zugeschriebene Liebeslied zwischen den Bibelbuchdeckeln.
Und dann kam „nach 68“, Ende letzten Jahrhunderts, der Sturm der Entrüstung: Lasst es uns doch als das lesen, was es ist! Ein einfaches schönes Liebeslied, in dem der Name Gottes nur an einer Stelle vorkommt. Kapitel 8, Vers 6, vielleicht bei manchen als Trauspruch im Ohr:

Lege mich auf dein Herz wie ein Siegel…Denn stark wie der Tod ist die Liebe… Feuer ist ihre Glut, Flamme des HERRN.

Wie sagte es Hegel, der große Geschichtsphilosoph: Nach der These und der Antithese folgt die Synthese:
Heute lesen wir das Hohe Lied sowohl als auch.

Als Erotik zwischenmenschlich wie auch als Allegorie göttlich – menschlich! Und da passt dann das Bild der Mauer:
Da steht er, hinter unserer Mauer, schaut herein durch die Fenster, späht durch die Gitter.

Er, das könnte Christus sein - und sie, das wären dann wir, die Gemeinde.
Von Christus noch getrennt. Denn die Selbstverständlichkeit des Glaubens, sie ist ja vielen von uns in den letzten Jahren verlorengegangen.

Ich nenne die Stichworte:
Christen nur noch eine Minderheit in Deutschland.
Keine klaren Antworten der Kirche auf die dreifache Krise: Klima, Corona und nun auch noch Krieg.
Das Gegenteil von einem Liebeslied könnte ich jetzt darauf dichten – will sie aber davor verschonen.

Denn das Erstaunliche ist ja: Trotz alledem ist es noch einmal, ist es wieder Advent geworden.
Und es ist wohl kein Zufall, dass wir gerade nach diesem schweren Jahr die längste nur mögliche Adventszeit haben. Macht hoch die Tür fast volle vier Wochen lang, vom 27. November bis 24. Dezember.
Wir brauchen diese lange Zeit, damit die Mauer fallen kann.
Die Mauer zwischen Christus und uns, seiner Gemeinde.
Wir haben uns von Christus entfernt.
Und wir fragen laut: Wo ist denn Gott überhaupt, lässt er uns, lässt er die Ukraine, lässt er absaufende Südseeinseln allein?

Vor lauter Fragen und Klagen übersehen wir seine Botschafter, die Engel des Friedens.
Überhören wir die Klopfzeichen des Werbenden, der an der Tür steht.
Denn das ist doch nach wie vor die Freudenbotschaft des Advent:
Trotz alledem, in all dem Schlamassel kommt Christus auf uns zu.
Wir müssen uns nicht hinter einer Mauer verschanzen und dort stehen bleiben.
Es gilt die Poesie des Frühlings im kalten Winter - nach den Worten von Nelly Sachs:

Die Klagemauer / Im Blitz eines Gebetes / stürzt sie zusammen
Gott ist ein Gebet weit / von uns entfernt

Vielleicht haben wir uns von Gott entfernt – und ER? ER ist noch da!
Und hört unser Gebet!

Martin Luther legt unsere Bibelstelle so aus:

„Hinter den Leiden, die uns von Gott scheiden wollen wie eine Wand, ja wie eine Mauer, steht Gott verborgen – und sieht doch auf mich und verlässt mich nicht.“

Die Poesie des Liebesliedes, sie ruft uns auf, poetischer gesagt: sie verlockt uns, uns zu bewegen. Hinter der Mauer hervor zu kommen. Den Aufbruch zu wagen, heraus der Distanz zu Christus, in der wir uns eingerichtet haben. Den Aufbruch zu einem Mitmenschen vielleicht hier im Haus oder anderswo, der überrascht sein wird, dass ich gerade an ihn denke. So wie Gott uns überrascht mit seinem Werben.
Er selbst bringt Bewegung in unsere Beziehung zu ihm.
Und seine Sprache ist so zärtlich!

Sie lässt uns die Zeichen des Frühlings, die Zeichen dafür, dass Jesus wieder im Kommen ist, auch im Dezember wahrnehmen:
Das frische Grün der Tannenzweige.
Heute am 4. Dezember, Tag der Barbara: die Knospen an den Zweigen!

Die Schönheit der Christrosen und die Farben der Weihnachtssterne.
Die winterlichen Töne vereinzelter Vögel.

Gestern beim Radfahren gehört: Kohlmeise, Dompfaff, Zaunkönig!

Mein Geliebter hob an und sprach zu mir:
Steh auf meine Freundin, meine Schöne, und komm!
Sieh doch, dahin ist der Winter,
vorbei, vorüber der Regen.
Die Blumen sind im Land zu sehen,

die Zeit des Singens ist gekommen.

Und der Friede Gottes, der weiter reicht als alle menschliche Vernunft,
der wird unsere Herzen und Sinne bewahren in Christus Jesus.
Amen.