Liebe Gemeinde,

in einer widersprüchlichen Welt leben wir.
Licht und Schatten teilen unsere Zeit:
in Tag und Nacht, Hell und Dunkel – auch im übertragenen Sinn.
So stelle ich den ersten und den letzten Halbsatz unseres Predigttextes nebeneinander:
Während Jesus noch redete...,... besteht die Macht der Finsternis. Letztere scheint ab jetzt den Weg Jesu zu beherrschen.
Seine Verhaftung kann offenbar nicht aufgehalten werden.
Gott lässt sie geschehen.
Der Menschensohn ergibt sich in sein Schicksal.
Gerade hatte er in der Nacht auf Karfreitag entsprechend gebetet.
Im Garten Gethsemane, während die Jünger in den Schlaf geflüchtet waren:
Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe, Vater im Himmel!
Und jetzt? Jetzt wissen die zwölf Freunde nicht mehr ein noch aus. Einer von ihnen fällt komplett aus der Rolle:
Judas, der ihn per Bruderkuss ausliefert.
Ein anderer wartet die Antwort des Lehrmeisters nicht ab.
Herr, sollen wir draufhauen mit dem Schwert? …
Und sogleich setzt der Bibeltext fort mit den Worten:
Einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohen Priesters und hieb ihm das rechte Ohr ab.
Dieses ganze Chaos betrifft auch den vorher so starken Petrus, der ihn gleich noch verleugnen wird.
Ebenso die anderen, die eingeschlafen waren. Obwohl Jesus wollte, dass sie mit ihm die Nacht der Finsternis aushalten.
Die Jünger sind eben Menschen wie du und ich. Die angesichts großer Gefahr ungeordnet reagieren: Gelähmt die einen, expressiv-aggressiv andere.
Jesus dagegen bleibt stark und souverän.
Auch und gerade angesichts der Gegenmacht.
Die ein paar Verse vorher - durchaus selten in der Heiligen Schrift - als Satan bezeichnet wird.
Finster finster – wir nehmen dieses Wort manchmal recht schnell in den Mund. Vorschnell vielleicht.
Finster erscheint die Zukunft auch der evangelischen Kirche.
Die Alarmglocken läuten solche Sätze, posaunen sie durch die Medien hinaus in die nachchristliche Gesellschaft.
Ja, das sind schon erschreckende Zahlen! 380.000 bislang protestantische Mitmenschen erklären in Deutschland ihren Kirchenaustritt in nur einem Jahr.
Mich schmerzt noch mehr als solch große Ziffern der konkrete Einzelfall. Wenn bei uns zwei uns gut bekannte junge Menschen darunter sind. Die sich auch noch nach der Konfirmation für unsere Gemeinde engagiert hatten. Das macht mich sehr nachdenklich...
Die Passionszeit: Sie dauert sechseinhalb Wochen.
Und gibt Gelegenheit, traurig zu werden.
Enttäuschungen zu formulieren.
Finsteres auszuhalten.
Ob die Zukunft der Kirche in unserem Land wirklich so dunkel sein muss, das lasse dich mal für einen Moment dahingestellt.

Wirklich finster ist dieser Krieg in unserer Nähe, der in unsere Gemüter übergreift. Und feste Positionen erschüttert, besonders die pazifistischen und „russlandfreundlichen“.
Wie hoffnungsvoll sind wir gewesen nach dem Riss des eisernen Vorhangs vor gut 30 Jahren! Dass der befriedete Ost-West-Konflikt dazu führen könnte, sie endlich wirksam zu lösen: die Probleme der Umweltzerstörung und globaler Ungerechtigkeit.
Hier erscheint nun die Leidensgeschichte des Menschensohnes aus Nazareth wie eine Folie für den Sieg von Gewalt und Terror.
Statt Evergreens zu singen bleibt nur noch das Everblack zu beklagen? Die Übermacht menschengemachter Finsternis?

Gott sei Dank, liebe Gemeinde, dass unser Predigttext diesen Anfang hat: Jesus redet noch!
Er deckt menschliche Verfehlungen auf, bringt sie mit seinen Worten ans Licht. Jesus verzichtet auf Schläge. Macht vielmehr mit seinen Fragen klar, wo es ganz finster zu werden droht:
Judas, mit einem Kuss lieferst du den Menschen Sohn aus?
Geht es noch verlogener?
Den Priestern, Soldaten und Presbyter nimmt der Friedensstifter mit einer Frage symbolisch die Waffen weg:
Wie gegen einen Räuber seid ihr ausgezogen, mit Schwertern und Knüppeln?
Tag für Tag war ich bei euch im Tempel!
Mit einem ähnlichen Satz gewann Angela Merkel einst ihre Wiederwahl: „Sie kennen mich.“
Jesus gewinnt erst später. Erst jenseits der Stunde völliger Finsternis. Jesus gewinnt erst dadurch, dass Gott am Ende der Herr bleibt auch über den Satan.

Wer Ostern kennt, kann nicht verzweifeln.
Diesen Satz sagt ein tief gläubiger Widerstandskämpfer in der NS- Zeit. Sein Name ist Dietrich Bonhoeffer.
Schon in diesem Teil der Passionsgeschichte leuchtet Ostern auf!
Die Eskalation der Gewalt wird durchbrochen.
Es bleibt bei einem abgeschlagenen Ohr.
In der Mitte findet sich der Kern unseres Predigttextes,
das spirituelle Zentrum:

Jesus aber entgegnete: Lasst das! Nicht weiter!
Und er rührte das Ohr an und heilte ihn.

Es soll wieder zusammenwachsen, was zusammengehört.
Der Mensch ist erst dann vollständig, wenn er wieder hören kann.

Vielleicht ist es so, dass manchmal zuerst Wunden aufgerissen werden, damit Heilung geschehen kann.
Auch was die Zukunft der Kirche anbetrifft.
In Stapelmoor lebt eine reformierte Schwestergemeinde, im südlichen Ostfriesland. Dort hat sich dieser Tage eine Leidensgeschichte eigener Art ereignet.
Die vor Ort durchaus erfolgreiche Pastorin verlässt die Gemeinde schon nach wenigen Jahren wieder.
Der Kirchenrat tritt daraufhin geschlossen zurück.
Was war geschehen?
Die von lange bewährten älteren Männern dominierte Gemeindeleitung hatte schon vor längerer Zeit einen Beschluss gefasst, der die Atmosphäre offenbar nachhaltig vergiftete.
Eine für die neue Küche gespendete Geschirrspülmaschine war wieder abgeschafft worden. Die Begründung lautete: Gemeinsames Abwaschen und Abtrocknen würde die Kommunikation der ehrenamtlichen Frauen fördern.
Als ob der gleiche Evangelist Lukas nicht schon vor 2000 Jahren die Geschichte von Maria und Martha erzählt hätte...

Auf deutlich positivere Weise kommuniziert haben zum ersten Jahrestag des Kriegsausbruch 20.000 Menschen zwischen Münster und Osnabrück. Sie bildeten eine Menschenkette zwischen den beiden Städten, die je ihre eigene Friedenstradition haben.
Sie taten einen Schritt aus der eigenen Hilflosigkeit heraus. Sie nahmen sich an den Händen. Berührten sich und wärmten sich gegenseitig. Sie setzten so ein heilsames Zeichen gegen Totschlag und Mord, für Heilung statt für kriegerische Eskalation.


Und ganz in der Nähe von Stapelmoor, in Weener, feierten gerade 100 junge Menschen einen Gebetsgottesdienst für alle Geflüchteten. Unter der Überschrift: Kein Mensch darf ertrinken!

Ostern scheint manchmal sehr weit weg, liebe Gemeinde.
Die Macht der Finsternis ist stark.
Aber hier und da leuchtet das Licht schon auf.

Jesus redet noch: Lasst das! Nicht weiter!

Und er rührte das Ohr an und heilte den, der halb taub geworden war.

Und Gottes Friede, der weiter reicht als alle menschliche Vernunft, der wird unsere Herzen und Sinne bewahren in Christus Jesus.
Amen.