Weihnachtspredigt von Pastor Christoph Rehbein am 25. Dezember 2021

Zur Predigt hören wir noch einmal den ersten Vers der Weihnachtsgeschichte aus Lukas 2:

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.

Liebe Gemeinde, für Volkszählungen haben wir in diesen Jahren keine Zeit. In unserem Land zählen wir andere Ziffern: Inzidenzen und Impfquoten. Und plötzlich macht es wieder auf: das Impfzentrum nebenan. Denn wir sind noch nicht alle geboostert – und das scheint doch besser zu sein als gar nichts gegen den neuen Gegner namens Omikron.

Ich geh mal ein paar Jahre zurück, als Impfzentrum noch kein Anwärter auf die neue Ausgabe des Duden war. Da kam ein anderes Wort in alle Munde: Kompetenzzentrum. Ikea eröffnete in Südniedersachen nicht einfach ein neues Einrichtungshaus, sondern ein Möbel-Kompetenzzentrum. Und als die lutherische Kirche die Landessuperintendentur in Göttingen aufgab und mit Hildesheim verschmolz, da gab es einen großen Aufschrei. Gegenargument war genau dieses Wortungetüm. Man müsse Hildesheim stärken, auch mit dem Michaelishaus für Kirchenmusik, man müsse ein starkes Gegenüber haben zum Bischofssitz der katholischen Kirche.

Eben ein lutherisches Kompetenzzentrum.

Hat da nicht mal ein Engel gesagt: Fürchtet euch nicht!?

Worauf ich hinaus will, liebe Gemeinde, das ist diese Tatsache: Damals, als Jesus geboren wurde, und auch noch 80 Jahre später, als Lukas das Weihnachtsevangelium schrieb, damals war Rom ganz unbestritten das Kompetenzzentrum der europäischen und vorderasiatischen Welt. Und Augustus als Kaiser von Rom mit Abstand der mächtigste Mensch. Dem erweist Lukas seine Reverenz, indem er die Weihnachtsgeschichte weltgeschichtlich einordnet. Auch unsere Vorfahren, die wilden Germanen, haben bekanntlich profitiert von römischer Kompetenz. Die ersten Städte entstanden: Mainz, Trier, Köln, um nur einige zu nennen. Und tragfähige Brücken über ungezähmte Flüsse bauten die Römer, auch im übertragenen Sinne. Das alles wissen wir.

Für das aus dem Latein stammende Wort kompetent gibt es zwei deutsche Entsprechungen: sachkundig lautet die erste. Und die zweite lässt schon ahnen, wo Kompetenz in Überheblichkeit zu kippen droht: maßgeblich. Der Kaiser Augustus maßt sich an, alle Welt einzuschätzen, auch die Provinz Syrien – Palästina, wo Quirinius Statthalter war. Er wollte wissen: Wie viele Untertanen hat Rom, und wieviel Geld sitzt drin in meinem Reich? Wie hoch ist das gesamte Steueraufkommen? Augustus nimmt Maß und alle Welt hat sich zählen, hat sich vermessen lassen. „Jedermann ging, dass er sich schätzen ließe.“

Mare Nostrum, so nannten die Römer das Mittelmeer: unser Meer. Und Pax Romana hieß die politische Ideologie der Hauptstadt, die allen Provinzen übergestülpt wurde, gerne mit militärischer Gewalt: römischer Friede. In unserer Zeit oft als pax americana-Wiedergänger anzutreffen, inzwischen aber auf dem Rückzug...

Da setzt Lukas ein. Er setzt ein bei der Welt, wie sie nun einmal ist.

Und dann setzt er sie alle in Bewegung, die kleinen Leute, Maria und Josef von dem einen Kaff ins andere. Die Hirten von ihren Feldern hin zur Krippe. Dann nimmt er den Fokus weg von Rom und bewegt unsere Augen in Richtung Bethlehem. In die tiefste Provinz, in das judäische Hintertupfingen. Er knüpft an große jüdische Geschichte an, die längst verblasst ist: Das Friedensreich von König David.

Mensch, das ist 1000 Jahre her, davon spricht doch keiner mehr...

Doch. Ein Engel sagt, was Sache ist. Lukas bewegt uns. Er richtet unsere Augen von der Welt, wie sie ist, auf die Welt, wie Gott sie sich vorstellt. Nein, nicht allein vorstellt, sondern wie Gott sie gestaltet, wie Gott sie neu aufbaut. Wie er sie neu schöpft, von ganz unten her, beginnend mit einem winzig-zerbrechlichen menschlichenWesen. In einer Futterkrippe, in einer Höhle in Bethlehem.

Das ist bis heute unerhört, liebe Gemeinde, was dieser Engel da sagt: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn Euch ist heute der Heiland geboren, der Herr, in der Stadt Davids.

Das geht alles Volk an, viel mehr noch als des römischen Kaisers Zahlenspielereien, alles Volk. Und dieser Säugling dort in der Krippe, das ist der Messias, das ist der Herr, der soll die Welt regieren. Und als ob diese unerhörte Ansage nicht ausreichen würde, stimmt noch eine ganze Menge von Engeln mit ein, und sagt oder singt:

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden!

Nicht Pax Romana, sondern Friede von Gott her. Mit Marias Worten könnte man fragen: Wie soll das zugehen?

Will Lukas, will die Bibel nun behaupten, das eigentliche Kompetenzzentrum unserer Welt sei Bethlehem? Ja, ich denke, das will er. Allein, von diesem etwas albernen Modewort sollten wir abrücken. Lukas predigt nicht Arroganz, sondern Wahrheit. Man muss mehr auf Gott hören als auf Menschen, so sagt er später in der Apostelgeschichte.

Was wäre das richtige Wort für Bethlehem? Friedenszentrum? Das würde gehen. Aber noch zutreffender ist ein anderer Begriff. Plötzlich, mitten im Nachdenken über den richtigen Begriff, schlich sich ein Weihnachtslied, lange nicht gesungen, in mein Herz: Wo ist der Freuden Ort? Nirgends mehr denn dort, da die Engel singen…

Bethlehem ist der Freudenort, liebe Gemeinde! Denn da spricht der Engel zuerst von dem allein wirksamen Gegenmittel gegen die allgegenwärtige Furcht und Angst:

Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird.

Dir und mir, jeder und jedem von euch! Die Hirten hat das geschockt, dass ausgerechnet ihnen das zuerst mitgeteilt wurde. Ihnen als den unregelmäßigen Verben der palästinischen Gesellschaft.

Den Nachtmenschen, denen am unteren Ende der sozialen Skala. Ausgerechnet ihnen, die keinen Grundbesitz hatten, nur ihre Schafe.

Selig seid ihr Armen, wird der erwachsene Jesus später sagen, denn das Reich Gottes gehört euch!

Die Pax Romana funktioniert nur hierarchisch. Der Kaiser befiehlt und die Untertanen geben dem Kaiser, was des Kaisers ist. Im Zweifel alles, was sie haben. Der römische Friede funktioniert nur von oben nach unten: Herrscher knechten ihr Volk.

Der göttliche Friede dagegen erreicht alle Herzen. Bis hin zu den reichen Ausländern, den Weisen, die ihre Geschenke zur Krippe bringen.

Deswegen schenken auch wir uns etwas zu Weihnachten. Das ist jedenfalls die landläufige Erklärung.

Ich dagegen denke, der Sinn des Schenkens geht tiefer. Ich glaube, wir schenken uns etwas, um uns zu überraschen. Um ein Lächeln auf das Gesicht der Menschen zu zaubern, die uns viel bedeuten. Und Überraschung, die geht nicht auf die drei Geschenkebringer, die Sterndeuter, die geht vielmehr auf die Hirten zurück! Die konnten es zuerst ja nicht fassen, dass die Klarheit des Herrn ausgerechnet sie erleuchtete. Sie, die Nachtmenschen. Und dann werden sie berührt, nachdem sie eilend zur Krippe kamen, vom Anblick des Kindes. Sie verstehen sofort, was Gott ihnen sagen will. Und sie breiten das Wort aus, das zu Ihnen gesagt war, erzählen die Überraschung weiter, teilen das Geschenk, dass Gott ihnen macht, mit allem Volk, dass ihnen über den Weg läuft.

Ich stelle mir vor, liebe Gemeinde, es geht Ihnen ähnlich wie mir. Im Advent und zu Weihnachten entdecken wir Überraschendes. Da werden unsere Sinne geschärft für neue Entdeckungen. Auch wenn wir abgeklärte Rationalisten sind, spüren wir: Gut, dass in der Welt, wie sie nun einmal ist, hier und da etwas aufblitzt von der Welt, wie sie sein könnte. Das Weihnachtsfest ändert die Welt nicht von heute auf morgen, aber es hält die Idee wach, wie Gott sich die Welt vorstellt. Es verstärkt diese Idee, alle Jahre wieder, mehr und mehr.

Haben Sie auch schon gehört, dass es da im Piemont, in den norditalienischen Alpen, ein Dorf gibt, das so tief in einem Tal liegt, dass es im Winterhalbjahr grundsätzlich keine Sonne abbekommt? Zuletzt gelang es tatkräftigen Leuten, oberhalb des Dorfes große Spiegel zu installieren, die das dort einstrahlende Sonnenlicht direkt nach unten richten. Auf dem Dorfplatz, wo sie es jetzt wieder wärmer und heller haben.

Wie so ein Spiegel ist die Weihnachtsgeschichte. Sie öffnet uns die Augen für die Freudenorte dieser Welt.

Von einem möchte ich zum Schluss noch berichten. Davon las ich letzte Woche in der tageszeitung. Es ist die englische Kleinstadt Frome, nicht weit entfernt von Hannovers Partnerstadt Bristol. Dort stellt man sich dem Problem zunehmender Vereinsamung älterer Menschen. Mit frischem Mut und mit Fantasie. Die politisch Verantwortlichen besinnen sich darauf, dass genau dieses Wort von der griechischen Idee der Polis kommt: Ein Ort, an dem man sich umeinander kümmert. Im Frome sorgt man für die sozialen Belange von Menschen, die lange in einer Klinik waren und ganz neu in ihre Nachbarschaft aufgenommen werden. Sie werden von jüngeren Ehrenamtlichen eingeführt in die digitalisierte Welt. Kontakte zu Vereinen und Kirchengemeinden werden neu geknüpft. Ein Ort der Freude wird Frome auch dadurch, dass es einen großen Gemeinschafts-Kühlschrank gibt, aus dem Bedürftige sich auch anonym bedienen können. Und richtig gut ist die Idee der talking bench: Das sind Gesprächsbänke, wo jeden Mittwoch Frauen und Männer sitzen, die offene Ohren haben, wenn jemand das Bedürfnis hat zu sprechen. Über das, was ihn oder sie bewegt.

 

Uns alle bewegen auch über weihnachten hinaus die Worte der Menge der himmlischen Heerscharen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

Und Gottes Friede, der weiter reicht als alle menschliche Vernunft, der wird unsere Herzen und Sinne bewahren in Christus Jesus. Amen.