Predigt
»Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.« (Röm 1,7) Amen.
I.
Liebe Gemeinde,
als ich 1992 in Wuppertal studierte, belegte ich bei Prof. Scholl ein Seminar zum Abendmahlstreit zwischen Luther und Zwingli. Ich glaube, es war in der ersten Stunde, als er uns fragte, was denn für uns reformierte Theologiestudierende der höchste Feiertag sei. Der Erste sagte ›Natürlich Weihnachten‹. Prof. Scholl schüttelte den Kopf und sagte, er habe nach dem höchsten christlichen Feiertag gefragt, und nicht danach, wann es die meisten Geschenke gebe. Eine Studentin sagte dann ›Karfreitag‹, schließlich dürfe man da nicht einmal tanzen gehen. Prof. Scholl schüttelte erneut mit dem Kopf. Das sei für Lutheraner der höchste Feiertag, aber nicht für Reformierte. ›Ostern‹ rief dann einer, aber Prof. Scholl verneinte. Ostern sei ein wichtiges Fest, aber nicht das wichtigste für die reformierte Kirche. ›Pfingsten‹ rief dann sofort jemand, das sei doch der Geburtstag der Kirche. Prof. Scholl schüttelte den Kopf. ›Buß- und Bettag‹ versuchte noch einer. Prof. Scholl wurde jetzt ungehalten und rief in den Seminarraum: »Himmelfahrt! Christi Himmelfahrt natürlich!«
Wir Studierende schauen irritiert. Damit hatten wir nicht gerechnet. Und Prof. Scholl erklärte: Seit Himmelfahrt sei Jesus Herr der Kirche; er sitze jetzt leiblich zur Rechten Gottes und könne deshalb nicht leiblich, sondern nur geistlich im Abendmahlsbrot sein. //
Mir ist diese kleine Szene in Erinnerung geblieben, weil der Schweizer Professor dem vielerorts als ›Vatertag‹ verkommenen Ruhetag eine Bedeutung gab. Und zugleich brachte er das zentrale Problem des Abendmahlsstreites zwischen Luther und Zwingli auf den Tisch: Kann Christus leibhaftig im Brot sein, wenn er leibhaftig zur Rechten Gottes sitzt?
Natürlich waren wir Studierende auch ein wenig beschämt, dass wir den Himmelfahrtstag so wenig als wichtigen Feiertag im Blick hatten.

II.
Liebe Gemeinde,
vielleicht denken Sie, dass uns die Bedeutung von Himmelfahrt erst in neuerer Zeit abhanden gekommen ist. Doch schon vor 250 Jahren wurden in Preußen nur noch Weihnachten, Ostern und Pfingsten mit einem arbeitsfreien Tag versehen. Himmelfahrt sollte gefälligst auf dem darauffolgenden Sonntag gefeiert werden. So ordnete es König Friedrich II. 1773 an und konnte auf diese Weise ganze 7 zusätzliche Arbeitstage einrichten. 16 Jahre lang galt diese Regelung in Preußen, bevor Christi Himmelfahrt ab 1789 wieder arbeitsfreier Feiertag wurde.
Trotzdem zeigt der Blick nach Preußen und der Blick auf die umherlaufenden Männer zum ›Herren- oder Vatertag‹, dass viele Menschen mit diesem kirchlichen Fest nur noch wenig anfangen können. Und auch uns Reformierten bereitet ›unser höchster Feiertag‹, wenn wir das Prof. Scholl glauben wollen, einige Schwierigkeiten.

III.
Das alles ist Grund genug, dass wir uns den Predigttext noch einmal genauer anschauen.
»Er wurde in den Himmel emporgehoben«, heißt es dort. Dieser Satz ist jedoch eine spätere Hinzufügung; ebenso die Bemerkung, dass sich die Jünger anbetend vor dem aufsteigenden Herrn niederwarfen.
Der ursprüngliche Bericht im Lukasevangelium hatte folgenden Wortlaut:
»Darauf führte Jesus sie aus der Stadt hinaus nach Betanien. Dort erhob er die Hände und segnete sie. Es begab sich aber zu der Zeit, während er sie segnete, dass er sich von ihnen entfernte. Dann kehrten sie voller Freude nach Jerusalem zurück. Sie verbrachten ihre ganze Zeit im Tempel und priesen Gott.«

Von einer ›Himmelfahrt‹ ist hier also nicht die Rede. Der Blick der Jünger bleibt auf der Erde. Gerade hat er noch da gestanden, zu ihnen geredet. Und nun: »beim Segnen entfernte er sich von ihnen.«
Die Geschichte von Jesu Himmelfahrt ist also kein schwieriger Glaubensartikel, sondern anschaulicher Ausdruck der beiden Grunderfahrun­gen des Menschen: Trennung und Segen.

IV.
Liebe Gemeinde,
Sie werden mir zustimmen, wenn ich sage, dass unser Leben aus einer Summe von Trennungen besteht: gewollten und ungewollten, verschuldeten und erzwungenen, heilsamen und tragischen. Leben heißt Abschiednehmen von Menschen, von Orten, von Zeiten, von überwun­denen Standpunkten und immer wieder auch von religiösen Anschauungen und Gottesbildern.

Trennungen können Amputationen sein, von denen wir uns nicht – oder nur sehr schwer – erholen; sie können sein wie unerklärliche Krankheiten, denen wir Namen geben wie Heimweh, Kummer, Wehmut, Trübsal oder Seelenschmerz. Das sind alt­modische Begriffe für Zustände, über die man nicht gerne redet, die manchmal aber ganz schön tief empfunden werden.
Gleichzeitig sind Trennungen notwendig. Und manchmal sind sie auch eine segensreiche Sache. Oder um es mit dem Predigttext zu sagen: »Beim Segnen entfernte er sich zugleich von ihnen«.
Trennungen haben einerseits eine ordnende und klärende Funktion. Manchmal versteht man das erst im Nachhinein.
Zum anderen bedeutet Trennung: Ablösung, Unabhängigkeit, Selbständigkeit, Be­freiung von etwas, das uns nicht festhalten darf. Im Voranschreiten gelingt es manchmal besser, zu bleiben oder besser: zu werden, der oder die ich bin.
So eine segensreiche Trennung muss sich dort bei Bethanien abgespielt haben, als aus den unselb­ständigen und verängstigten Jüngern Apostel wurden.

V.
»Es begab sich aber zu der Zeit, während er sie segnete, dass er sich von ihnen entfernte.«
»Es begab sich aber zu der Zeit« – mit denselben Worten beginnt Lukas seine Weihnachtsgeschichte und hier nun auch die Geschichte vom Abschied Jesu. Diese Worte machen deutlich: In der Geburt Jesus liegt ein Segen, aber auch in seinem Abschied.
So ein segensreicher Abschied muss es gewesen sein, dort, in der Nähe von Betha­nien. Ein Abschied ohne Traurigkeit. Kein Wort von Abschiedstränen, im Gegenteil: »Und die Jünger kehrten zurück mit großer Freude und seg­neten Gott.«

Plötzlich können sie also dasselbe tun wie ihr Herr: Segnen, preisen, schön und gut vom anderen reden, sich mit ihm identifizieren und allein die guten Seiten des andern sehen – das alles bedeutet nämlich das griechische Wort ›segnen‹.

Der Kirchenlehrer Augustin fragt an dieser Stelle: »Wie kann aus Trennung solche Freude wach­sen?« – und er antwortet:
»Du siehst, Gott hat sich nicht hinter den Wolken versteckt, sondern seine ganze Kraft und Herrlichkeit in den Herzen seiner Freunde den Himmel eingerichtet; das ist der Abschiedssegen Jesu: Gott entzieht sich der frommen Betrachtung seiner Jünger und beginnt in ihnen zu atmen.«

Ähnlich hat Albert Schweitzer die soge­nannte Himmelfahrt Christi beschrieben: »Hier verabschiedet sich der Rabbi Jesus als religiöser Lehrmeister in seinem kleinen privaten Freundeskreis, und er offenbart sich gleichzeitig als menschlicher Lebensmeister in allen Kindern dieser Welt.«
Das heißt: Wäre Jesus bei seinen Jüngern und Jüngerinnen geblieben, dann wäre er zum Guru geworden; er hätte Abhängigkeiten geschaffen und verhindert, dass die Jünger selber aktiv werden, das Evangelium weitersagen und segnen.
Dass ein Abschied segensreiche Wirkung haben kann, sehen wir auch beim Blick auf den gestrigen Tag. Der 8. Mai 1945 war der Tag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht: Eine totale Niederlage und zugleich das Ende eines brutalen Krieges. Der Abschied vom nationalsozialistischen Größenwahn ermöglichte den mühsamen Neuanfang und brachte vor 75 Jahren das Grundgesetz hervor.
Schmerzhafter Abschied und sich langsam abzeichnender Segen – auch hier sehen wir diesen Zusammenhang.

VI.
Liebe Gemeinde,
doch was haben wir von dem segensreichen Ab­schied Jesu in der Nähe von Bethanien? Kann diese alte Geschichte unser heutiges Leben zum Besseren verändern?
Was nützt die Über­lieferung von der segensreichen göttlichen Macht­ergreifung der Menschenherzen, wenn ein Abschied richtig weh tut und als offene Wunde bleibt?
Was nützt die segensreiche Verbindung mit dem erhöhten Herrn all denen, deren innige menschliche Beziehungen tragisch zerbrochen sind, oder denen, die nie etwas der­artiges erleben durften?

Diese Fragen sind nur schwer zu beantworten. Denn unsere Erfahrung ist, dass nicht jeder Abschied zu einer segensreichen Angelegenheit wird.
Vielleicht ist es auch gar nicht gut, jeden Bibeltext daraufhin zu befragen, wie er mir in einer konkreten Situation helfen kann. Wir verlangen da von Bibeltexten manchmal zu viel.
Aber der heutige Predigttext macht mit dem Nebeneinander von Trennung und Segen deutlich, dass Jesus nicht aus unserer Welt verschwunden ist. Er ist bei Gott und wir erwarten, dass er wiederkommt. Und bis dahin wissen wir, dass sein Geist uns begleitet und seine Liebe in unsere Herzen eingepflanzt ist. Sein Segen ist da, wo in dieser Welt gelitten, gestorben und gezweifelt wird.
Ich will schließen mit Karl Barth. Von ihm wird folgendes berichtet: Am 9. Dezember 1968 hat er mit seinem Freund Eduard Thurneysen telefoniert und ihm folgendes gesagt: »Ja, die Welt ist dunkel ... Aber nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert! Nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, sondern es wird regiert, und zwar hier auf Erden, aber von ganz oben, vom Himmel her! Gott sitzt im Regimente! Darum fürchte ich mich nicht! Bleiben wir doch zuversichtlich auch in den dunkelsten Augenblicken. Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns und uns alle miteinander nicht! Es wird regiert!«
Gott sitzt im Regiment – dessen war sich Karl Barth sicher. Und mit dieser Gewissheit starb er wenige Stunden nach dem Telefonat mit seinem Freund Eduard Thurneysen.
Das haben wohl auch die Jünger an jenem Tag vor den Toren Jerusalems erkannt. Und Sie konnten froh und zuversichtlich in die Zukunft blicken: Jesus ist jetzt bei Gott. Er hat uns alles gegeben, was wir brauchen, um neu anzufangen. Und er ist bei uns mit seinem Geist »alle Tage bis an der Welt Ende«. Amen.