• Predigt
»Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.« (Röm 1,7) Amen.

Liebe Gemeinde,
Samenkörner in die Erde stecken – jeder von uns kennt das. Im Frühjahr ist dazu die richtige Zeit, um sich im Sommer an Blumen, Salat oder grünem Rasen zu erfreuen. Schon als Kinder werden wir mit diesem Vorgang vertraut gemacht. Ich selbst erinnere mich, von meiner Großmutter einen Pfirsich-Kern erbeten zu haben, um ihn in einen Blumentopf mit Erde zu drücken. Das Ganze kam in den Heizungskeller, denn meine Sachkundelehrerin betonte, dass Südfrüchte nur bei warmen Temperaturen wachsen. Leider war ich zu ungeduldig und schaute anfangs fast jeden Tag nach, ob sich etwas tat. Später verlor ich die Geduld und vergaß, den Topf regelmäßig zu gießen. Der Keimling hatte zwar irgendwann die harte Schale geknackt, war dann aber im dunklen Heizungskeller vertrocknet.

Zum Glück kommen Schüler und Schülerinnen heute mit weniger empfindlichen Samenkörnern zu schnelleren Erfolgen. Und auch wir können in diesen Tagen erleben, wie triste Gärten zu blühen beginnen, weil viele Menschen darauf vertrauen, dass ihre Samen aufgehen.
Bei alledem handelt es sich um einen natürlichen Vorgang: Ein Samenkorn braucht die richtigen Temperaturen und genügend Feuchtigkeit, dann treibt es aus und bringt nach gewisser Zeit neue Samen hervor. Dieses Erfahrungswissen haben alle Menschen gemeinsam: Ein Weizenkorn für sich alleine vergeht, aber in der Erde verwandelt es sich in eine Pflanze, durchbricht die Erde und entwickelt ungeahnte Kraft. Ein natürlicher Vorgang, faszinierend, aber ohne tieferen Hintergedanken.

Dieser natürliche Vorgang hat Eingang gefunden in ein Gleichnis Jesu, und dort hat es eine tiefere Bedeutung. Im Alten Orient, wo die Menschen tatsächlich noch von der Hand in den Mund lebten, da verbrauchte man im Winter das Getreide, das man im Herbst geerntet hatte. Und etwa um diese Zeit, im Frühjahr, in der man das Passahfest feierte, da gingen die Vorräte zuneige. Und das letzte Getreide durfte nicht gegessen werden – denn das war Saatgut für die neue Saat.
Mit einer gewissen Sorge wurde es in die Erde gelegt. Denn niemand wusste, ob die Saat aufgehen würde oder ob Dürre, Regen oder Schädlinge die Ernte zunichte machen würden. Vor allem in Hungerjahren gab man die Körner nicht gerne her, aber es musste sein.

Dieses Wissen um die Saat im Frühjahr greift Jesus auf, um seine Jüngern und Jüngerinnen auf die Ereignisse um Karfreitag vorzubereiten. »Freunde«, sagt er damit, »denkt dran, wenn ich nicht mehr bei euch bin: Auch ihr müsst eure Samenkörner hergeben und begraben und mit Geduld die Wirkung abwarten. Genauso ist es bei mir: Bald müsst ihr mich hergeben, aber ich werde damit nicht verloren gehen, sondern in anderer Form weiterwirken.«

II.
Aber ich greife vor. Kommen wir zum heutigen Predigttext aus dem 12. Kapitel des Johannesevangeliums. Ich lese in der Übersetzung der »Guten Nachricht«:
»20 Unter denen, die zum Fest nach Jerusalem gekommen waren, um Gott anzubeten, befanden sich auch einige Griechen. 21 Sie gingen zu Philippus, der aus Betsaida in Galiläa stammte, und sagten zu ihm: »Herr, wir möchten gerne Jesus kennen lernen.« 22 Philippus sagte es Andreas, und die beiden gingen zu Jesus. 23 Der antwortete ihnen: »Die Stunde ist gekommen! Jetzt wird die Herrlichkeit des Menschensohns sichtbar werden. 24 Amen, ich sage euch: Das Weizenkorn muss in die Erde fallen und sterben, sonst bleibt es allein. Aber wenn es stirbt, bringt es viel Frucht. 25 Wer sein Leben liebt, wird es verlieren. Wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es für das ewige Leben bewahren. 26 Wer mir dienen will, muss mir auf meinem Weg folgen, und wo ich bin, werden dann auch die sein, die mir gedient haben. Sie alle werden von meinem Vater geehrt werden.«

III.
Einige Griechen auf Pilgerfahrt haben also vom berüchtigten Rabbi Jesus gehört, wollen ihn persönlich kennenlernen. Sie wenden sich an einen der Jünger. Der will nichts ohne Absprache arrangieren, fragt einen anderen, und beide geben Jesus das Anliegen der Griechen weiter. Jesus wiederum hält den Zeitpunkt für unglücklich, er hat andere Sorgen. Sein Weg ist an einem entscheidenden Punkt angelangt. Die religiösen Behörden sind alarmiert, und die römischen Machthaber sehen in ihm einen Unruhestifter.
Angesichts dieser Bedrohung braucht er keine Leute, die von Fern kommen, um den Wundermann zu bestaunen. Also geht Jesus auf das Anliegen gar nicht ein, sondern erklärt Philippus und Andreas etwas, was nicht so leicht zu verstehen ist.
»Die Stunde ist gekommen! Jetzt wird die Herrlichkeit des Menschensohns sichtbar werden«, sagt Jesus.
Wir, die wir um Ostern wissen, ahnen, was Jesus meint. Für die beiden Jünger aber dürfte das sehr beunruhigend geklungen haben. Denn auch sie wussten, dass der Weg Jesu gefährdet war. Sie ahnten bereits, dass schwierige Stunden auf sie zukommen würden. Wo sollte da die Herrlichkeit des Menschensohnes sichtbar werden? Und was sollte man darunter vorstehen? Galt es nicht vielmehr, ein Scheitern mit allen Mitteln zu verhindern? Sich notfalls zurückzuziehen? Und Jesus zu verstecken, bis die Gefahr vorüber war?
»Jetzt wird die Herrlichkeit des
Menschensohns sichtbar werden.«
Konnte man solche Sätze in einer solchen Situation überhaupt begreifen?
»Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt
und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt,
bringt es viel Frucht.«
Für Jesus war das ein Gleichnis für sein künftiges Wirken: Selbst wenn er sterben müsste, würde dies sein Wirken nicht ersticken. Vielmehr würde sein Tod erst recht Frucht bringen.

IV.
Jesus sagt dies seinen Jüngern und Jüngerinnen, nicht nur als Hilfe zum Verstehen, sondern auch als Grundregel für ihr künftiges Leben. Wir würden dies heute vielleicht so formulieren: Loslassen ist manchmal wichtiger als Festhalten. Und wir alle kennen das; im Laufe unseres Lebens müssen wir vieles loslassen:
Träume und Wünsche aus der Kindheit.
Berufe, die wir gerne ergriffen hätten.
Partnerschaften, in denen wir gerne alt geworden wären.
Kinder, von denen wir uns entfremdet haben.
Auch unser Körper signalisiert uns, dass wir im Alter nicht mehr alles machen können und manches loslassen müssen.
Ganz zu schwiegen von den Angehörigen und Freunden, an deren Gräbern wir schon gestanden haben.
Wenn wir das alles zusammennehmen, ist das eine Menge Verzicht, den wir im Laufe unseres Lebens ertragen müssen. Und jedem Menschen geht das so; es gehört zu unserem Dasein dazu. Doch nicht jede/r geht damit in gleicher Weise um. Manches stecken wir leicht weg, für manches brauchen wir Zeit und Geduld, und manches führt in die Verzweiflung – gerade wenn es nicht sofort einen Ausgleich gibt für das, was wir verloren haben.
Dass diese Art von Loslassen und Abschiednehmen auch Frucht bringen kann, das will uns meistens nur selten einleuchten. Was verloren ist, scheint für immer verloren. Welchen Gewinn sollte es bringen?
Im Grunde ist das Leben aber auch ein Einüben in dieses Loslassen. Diese Aufgabe hält das Leben für uns bereit, ob wir wollen oder nicht.
Wenn wir dieses Loslassen bewusst wahrnehmen und einüben, werden wir Früchte sehen. Wenn wir verkrampft festhalten wollen, verlieren wir.
Ich gebe zu, das ist wie ein Sprung ins unbekannte Wasser, und die wenigsten trauen sich das zu. Es ist wie in dem Psalm, in dem es heißt:
»Die mit Tränen säen, werden mit Freude ernten. Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen und kommen mit Freude und bringen ihre Garben.« (Psalm 126,5)

V.
Liebe Gemeinde,
noch eine weitere Zumutung hält unser Predigttext bereit:
Jesus sagt:
»Wer sein Leben liebt, wird es verlieren. Wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es für das ewige Leben be- wahren.« (V.25).

Dies ist ein schwieriges Wort Jesu, das ganz unterschiedlich verstanden werden kann. Es gab Situationen, in denen dieses Wort Jesu missbraucht wurde, um etwa Soldaten in den Kampf zu schicken, ihnen Mut zu machen, im Krieg zu sterben. Oder in Zeiten der Verfolgung hat die Kirche den Märtyrern versprochen, dass sie nach einem gewaltsamen Tod unmittelbar ins Paradies kommen.
Aber Jesus meint etwas anderes. Das Gleichnis ist seine Antwort auf den deprimierenden Satz: Wenn alles verloren scheint, lohnt es sich nicht, seine Lebenskraft für den Neuanfang einzusetzen.
Und das ist wahrscheinlich genau die Situation, in der wir gerade leben: Der Klimawandel schreitet unaufhaltsam voran, die russische Bedrohung ist kaum noch zu stoppen, der demokratische Rechtsstaat erscheint als Auslaufmodell, die Inflation frisst Löhne und Erspartes, Handelskriege schaden dem Welthandel, neue Fluchtbewegungen sind nur eine Frage der Zeit. Wo soll man sich da engagieren, um auch nur irgendetwas zu ändern?

Einige sagen sich: Lasst uns noch einmal in vollen Zügen genießen, teure Urlaubsreisen machen, große Autos und Jachten kaufen. Hauptsache uns geht’s gut. Schlimme Nachrichten und schlechte Gewissen – das ist nur etwas für Verlierer.
Jesus sagt: »Wer sein Leben [auf diese Weise] liebt, wird es verlieren.«

Die vielen anderen, die so gerne etwas ändern würden, sind gerade wie gelähmt. Die Nachrichten mögen sie schon gar nicht mehr hören, das zieht sie nur weiter runter. Aber woher sollen sie die Kraft nehmen in dieser sich so schnell verändernden Welt? Wo sollen sie anfangen? Woher wissen sie, dass es letztlich nicht doch vergeblich ist, seine Lebenskraft für Veränderung einzusetzen?
Liebe Gemeinde,
wie das Weizenkorn, das in die Erde fällt und erstirbt, ist es jetzt an uns, einen Neuanfang zu wagen und gegen allen Augenschein zu hoffen, dass er Frucht bringen wird. Unsere Gebete, all unser Engagement, die kleinen Taten und mancher Protest sind solche Weizenkörner, die in die Erde fallen. Im Moment sehen wir keinen Erfolg. Sie scheinen nichts zu bringen. Aber sie stehen in der Tradition der Botschaft Jesu vom Reich Gottes. Deshalb werden sie Frucht bringen auf ihre Weise – gegen allen Augenschein.

»Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus.« (Phil 4,7)