• Predigt
»Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.« (Röm 1,7) Amen.

Liebe Gemeinde,
der heutige Predigttext stammt aus einem kleinen Büchlein in der Bibel, zu dem nur sehr selten gepredigt wird. Dieses knappe Buch mit fünf Kapiteln wird »Klagelieder« genannt und steht versteckt im Alten Testament. Wie der Name schon vermuten lässt, enthält es Trauer- und Klagegebete.
Diese Gebete sind entstanden, als der Tempel in Jerusalem durch die Babylonier zerstört wurde. Das war vor 2.600 Jahren, doch noch immer werden diese Klagelieder jedes Jahr am Gedenktag der Zerstörung gebetet. Dann versammeln sich in Jerusalem viele Menschen vor der Westmauer des Tempelberges. Sie setzen sich auf den großen Platz und beten gemeinsam die Verse aus dem Buch der ›Klagelieder‹. Deshalb wird dieses Mauerstück, das nach der erneuten Tempelzerstörung durch die Römer übriggeblieben ist, ›Klagemauer‹ genannt. Für viele Juden und Jüdinnen ist diese ›Klagemauer‹ ein wichtiger Gebetsort. Hier werden Gebetszettel gerollt, gefaltet und zusammengedrückt in die Mauerritzen gesteckt. Wer will, schickt sein Gebetsanliegen auf digitalem Wege (https://my.jewishagency.org/kotel/en/); es wird dann ausgedruckt und in die Hohlräume der Mauer gesteckt.
Mehrmals im Jahr werden dann alle Zettel wieder entfernt, um Platz zu schaffen für neue. Die Gebete an Gott unterliegen selbstverständlich dem ›Postgeheimnis‹. Was auf den Zetteln steht, geht nur den Menschen und seinen Schöpfer etwas an. Die Zettel anderer zu lesen, ist in Jerusalem tabu.

II.
Liebe Gemeinde,
ich stelle mir vor, was da alles an Gebetsanliegen zusammenkommt. Und dass es Tage gibt, an denen der zuständige Rabbiner mit dem Ausdrucken der Gebete aus aller Welt gar nicht mehr nachkommt. Wenn die Zettel aufbewahrt würden, könnte man an ihnen besondere Krisensituationen der Welt ablesen.
Die Gebetszettel werden jedoch, weil sie den Namen Gottes enthalten, nach jüdischer Tradition nicht einfach entsorgt. Sie gelangen zunächst in ein Depot für ausgediente Heilige Schriften. Dann werden sie zum Ölberg gebracht, wo sie – ungelesen – nach einem jüdischer Ritus beerdigt werden.
Ich stelle mir vor, dass jemand die aus aller Welt täglich eintreffenden Gebete zählt und mit der Nachrichtenlage der letzten drei Jahre abgleicht; an einigen Tagen werden besonders viele (Klage-)Gebete eingetroffen sein – z.B. am

24. Februar 2022: Die russische Armee greift die Ukraine an.
7. Oktober 2023: Die Terrororganisation Hamas überfällt vom Gazastreifen aus Israel und richtet unter Zivilisten ein Massaker an.
14. Juli 2024: Auf Donald Trump wird ein Attentat ausgeübt.
27. September und 9. Oktober 2024: Wirbelstürme verwüsten gleich zweimal die Küsten Mexikos und Floridas
30. Oktober 2024: Flutkatastrophe in Spanien. 220 Menschen sterben, 41 werden bis heute vermisst.
6. November 2024: Donald Trump gewinnt die US-Präsidentschaftswahl
Am selben Tag zerbricht abends die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP.

→ Krieg, Terror, Politik und Klimakrise. In der Gesamtschau möchte man den Anfang unseres heutigen Predigttextes an die digitale Adresse der Klagemauer schicken:

»15 Er gab mir die bitterste Kost zu essen und ließ mich bitteren Wermut trinken. 16 Er hat mich in den Staub gedrückt und mich gezwungen, Kies zu kauen.
17 Das ruhige Leben hat er mir genommen; ich weiß nicht mehr, was Glück bedeutet. 18 Ich habe keine Zukunft mehr, vom Herrn ist nichts mehr zu erhoffen! 19 All dieses rastlose Elend zu erfahren, ist Gift für mich und macht mich bitter. 20 Doch immer wieder muss ich daran denken und bin erfüllt von Verzweiflung und Schwermut.«

III.
Liebe Gemeinde,
ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie diese Klage hören, die 2.600 Jahre alt ist. Mich hat das sehr angesprochen, dass da jemand etwas in Worte und Bilder fasst, wie es Menschen geht, die sich in den Staub gedrückt fühlen. Sie wagen gar nicht mehr, nach vorne zu schauen. In Jerusalem war es der Staub des zerstörten Tempels. Das zentrale Heiligtum, in dem Gott seinen Namen wohnen lässt, ist nicht mehr da. Ist Gott jetzt auch nicht mehr da? Gelten seine Gebote und Rechtsbestimmungen noch? Und was ist mit seinen Verheißungen, die Hoffnung und Zukunft eröffneten?

Das alles ist mit der Zerstörung des Jerusalemer Heiligtums in Frage gestellt. Die Menschen fragten sich damals: »Wo kann man da neu anfangen und wieder hoffen? (Pause)
Ich selbst habe zuletzt in den Zeitungen viel über Resilienz gelesen: Um in der Flut der schlechten Nachrichten nicht unterzugehen, sei es ratsam, Resilienz zu entwickeln. Beim Googeln fand ich dann, dass es mehr als 6.000 Buchtitel zum Thema gibt. Ich konnte das fast gar nicht glauben. Ich sah Bücher wie »Resilienz: Wie man Krisen übersteht und daran wächst« oder »Resilienz – (...) Wie du Stress abbaust und Depressionen vorbeugst. Für mehr Gelassenheit und innere Stärke im Alltag und Beruf«.
Das lateinische Wort ›Resilienz‹ – habe ich dann erfahren – bedeutet ›zurückspringen‹. Es kommt aus der Biologie und bezeichnet die Spannkraft einer Pflanze, die sich im Wind biegt und dann wieder aufrichtet. Seit einigen Jahrzehnten wird der Begriff verstärkt in der Pädagogik und Psychologie gebraucht. Es gibt Resilienz-Ratgeber und -trainer für Schulen, für alle möglichen Berufe, für Gestresste, Einsame und Erkrankte.
Auch auf der Homepage des Bundeswirtschaftsministeriums heißt es: »Resilienz [beschreibt] die Fähigkeit von Personen oder Gemeinschaften, schwierige Lebenssituationen wie Krisen oder Katastrophen ohne dauerhafte Beeinträchtigung zu überstehen.« (https://www.bmz.de/de/service/lexikon/resilienz-70564)
Häufig wird in dem, was ich gelesen habe, darauf hingewiesen, dass es bestimmte Faktoren gibt, die für eine Resilienz förderlich sind. Am bekanntesten ist das 7-Säulen-Modell:
Dazu gehören:

1. Akzeptanz der Situation, wie sie gerade ist.
2. Hoffnung, dass es eine Verbesserung geben kann.
3. Blick auf mögliche Lösungen.
4. Verlassen der Opferrolle.
5. Verantwortung übernehmen für das eigene Leben.
6. Ein Netzwerk von Unterstützern suchen und
7. Pläne für die Zukunft machen.

Liebe Gemeinde,
ich war überrascht zu sehen, dass einige diese 7 Säulen bereits in unserem Predigttext aus Klagelieder 3 auftauchen.
Die erste Säule haben wir schon gehört – die Akzeptanz der Situation, wie sie gerade ist: Ja, der Tempel ist zerstört, wir fühlen uns in den Staub gedrückt, an Hoffnung ist nicht einmal zu denken.
Dieses nüchterne Eingeständnis der verfahrenen Situation ist ein wichtiger erster Schritt. Wer nicht mehr weiß, wie tief der Schmerz in der Seele hängt, bleibt in diesem Schmerz gefangen.

Nach diesem Eingeständnis kann der Verfasser der Klagelieder darum die zweite Säule aufstellen – die Hoffnung, dass es eine Verbesserung geben kann.
Das Klage-Gebet schaut zunächst zurück:

»21 Ich will mich an etwas anderes erinnern, damit meine Hoffnung wiederkommt: 22 Von Gottes Güte kommt es, dass wir noch leben. Sein Erbarmen ist noch nicht zu Ende, 23 seine Liebe ist jeden Morgen neu und seine Treue unfassbar groß.«

Der Verfasser der Klagelieder macht sich also bewusst, dass er ja noch lebt. Jerusalem liegt in Schutt und Asche, aber er und viele andere sind noch da. Und den Grund dafür sieht er in Gottes Güte, in Gottes Erbarmen, in seiner Liebe und Treue.

IV.
Liebe Gemeinde,
es ist ja nicht alles aus,
- bloß weil Donald Trump wieder ins Weiße Haus einzieht,
- bloß weil der Ukraine-Krieg demnächst ins 4. Jahr geht,
- bloß weil wir offensichtlich alle Klimaziele verfehlen.

Das ist alles bitter und drückt uns in den Staub. Aber dass wir als Menschen auch vieles erreicht haben und vieles schaffen können, das ist auch wahr. Und wer glaubt, sieht darin Gottes Güte, sein Erbarmen, seine Liebe und seine Treue am Werk.

Deshalb blickt der Verfasser der Klagelieder nach vorne:

»24 Der Herr ist mein Ein und Alles; darum setze ich meine Hoffnung auf ihn.«

Damit komme ich zur dritten Säule der Resilienz, den Blick auf mögliche Lösungen. In unserem Predigttext klingt das so:

»25 Der Herr ist gut zu denen, die nach ihm fragen, zu allen, die seine Nähe suchen. 26 Darum ist es das Beste, zu schweigen und auf die Hilfe des Herrn zu warten.«

Liebe Gemeinde,
all das Reden und Argumentieren hat in den letzten Jahren wenig gebracht: Trump gewinnt haushoch die Wahl, Putin wird gefürchtet wie nie, und der Klimawandel wird selbst von Betroffenen geleugnet.
Warum also nicht einfach mal schweigen, wie unserer Predigttext empfiehlt – sich zurücklehnen und auf die Hilfe des Herrn warten. Denn schließlich läuft Trump die Lebenszeit davon, Putin die Wirtschaftskraft. Und den Klimawandel werden immer mehr Menschen spüren und für real halten.
Die Zeit läuft also nicht nur gegen uns, sondern auch für uns.

Die vierte Säule der Resilienz fordert uns auf, die Opferrolle zu verlassen.
Das heißt nicht, dass wir keine Opfer mehr sind. Trump und Putin werden uns noch viele Opfer abverlangen. Aber die Opfer-Rolle sollen wir ablehnen. Wir kennen das von der Bergpredigt Jesu, wenn er sagt: »Wer dir auf die linke Wange schlägt, dem halte auch die rechte hin!« (Mt 5,39). Das ist keine Einladung zum Verprügeltwerden, sondern aktiver gewaltloser Widerstand.
Mahatma Gandhi und Martin Luther King haben gezeigt, wie mächtig gewaltloser Widerstand sein kann: in Indien gegen die Unterdrückung durch die englische Kolonialherrschaft und in den USA gegen den weißen Rassismus.
Auch unser Predigttext weiß etwas von der Kraft des Aushaltens, weil es immer ein Danach gibt:

30 Dem, der ihn schlägt, soll er die Backe hinhalten und alle Schmach und Schande auf sich nehmen. 31 Der Herr verstößt uns nicht für immer. 32 Auch wenn er uns Leiden schickt, erbarmt er sich doch wieder über uns, weil seine Liebe so reich und groß ist.

V.
Liebe Gemeinde,
ich finde es spannend zu sehen, welche Kraft in diesen alten Texten der Bibel steckt: Wie Menschen, die Schlimmes erlebt haben, uns eine Idee davon geben, dass das Leben weitergeht und mit Gottes Hilfe erträglich bleibt.
Und ich finde es hilfreich, dass die Resilienz-Forschung uns weitere Hinweise gibt, wie man in düsteren Zeiten überleben kann.
In der Süddeutschen Zeitung3 fand ich zwei Tage nach der Wahl von Donald Trump folgende Tipps (»Was der Seele hilft« in: SZ vom 8.11.2024, S. 14.):

- Rausgehen in die Natur. Das aktiviert das Immunsystem.
- Miteinander sprechen, statt sich zurückzuziehen.
- Handy aus. Nachrichten verfolgen ist o.k., aber negative
Schlagzeilen geradezu aufsaugen ist gefährlich für die Seele.
- Engagement im Kleinen. An den großen Dingen lässt sich meist nur wenig ändern, aber viele kleine Dinge lassen sich vor Ort gemeinsam voranbringen.
- Bewegung. Sie lindert psychische Symptome und verbessert die
Stimmung.
- Berührungen. Machen wir viel zu selten und ist doch so wichtig.
Und schließlich:
- Für die schönen Momente empfänglich bleiben.
Und als letztes möchte ich hinzufügen: fromm sein – d.h. eine Haltung an den Tag legen, die sich aus einer inneren Überzeugung heraus für das Gute engagiert.

Denn »22 Von Gottes Güte kommt es, dass wir noch leben. Sein Erbarmen ist noch nicht zu Ende, 23 seine Liebe ist jeden Morgen neu und seine Treue unfassbar groß.« Amen.