5. Mose 30, Verse 11-14

Predigt von Pastorin Elisabeth Griemsmann

am 11. Oktober 2020

Denn das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. 12Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer will für uns in den Himmel fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? 13Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? 14Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust. (5. Mose 30, 11)

 Liebe Gemeinde,

was ist zu tun?

Geht es mir um meine Bequemlichkeit? Oft muss ich so viele Dinge erledigen. Es wird mir einfach zu viel, dann entscheide ich mich, wenn es möglich ist, für eine Pause.

Geht es mir um die Verantwortung für andere? Die Schwächeren in der Familie brauchen meine Unterstützung und meinen Rat: die Älteren, um die Gesundheit zu erhalten, die Jüngeren, um von meiner Erfahrung zu hören. Dem kann ich mich nicht einfach entziehen.

Geht es mir um mein besonderes Glück? Ich möchte mein Glück schützen und erhalten, dafür brauche ich Zeit. Andere Kontakte muss ich leider vernachlässigen. Das tut mir leid.

Geht es mir um meinen beruflichen Erfolg? Kann ich Teamarbeit noch fördern oder ist die Konkurrenz unter den Kollegen zu groß? Bleibt mir eine Wahl oder kann ich einen Kompromiss finden?

Und geht es mir um die Gemeinschaft im Sport, in der Nachbarschaft, in der Kirchengemeinde? Kann ich ein gemeinsames Ziel fördern? Vermisse ich die Gemeinschaft, die bis in den März hinein möglich war?

Was zu tun ist, ist gar nicht so schwer. Eigentlich wissen wir genau, was zu tun ist. Wir können es schon unterscheiden. Folgen wir dem, wonach uns gerade der Sinn steht? Dann geht es wohl einfach um das Bauchgefühl. Oder folgen wir dem, was andere gerade brauchen und von uns erwarten? Oder beziehen wir eine eindeutige Position für die Schwächeren und lassen uns gegebenenfalls auf einen Streit ein? Wir wissen eigentlich, was zu tun. Aber wir halten uns aus verschiedenen Gründen nicht immer daran. Am besten ist es, wenn es zusammenpasst: das, was ich tun muss und was ich gern tue. Am aller besten ist es, wenn ich das Gute aus voller Überzeugung und Liebe tue, aus dem Herzen.

In dem Predigttext sagte Mose Worte zu dem Volk Israel, als sie nach dem Auszug aus Ägypten, der Begegnung am Gottesberg und der Wüstenwanderung fast am Ende ihres Weges angekommen waren: Im Land Moab, bevor sie den Jordan überschritten, um in das gelobte Land einzuziehen. Es sind Moses Abschiedsworte, denn er wird dieses Land nicht betreten. Was er ihnen sagte, waren die Gebote Gottes für ihr Zusammenleben in dem neuen Land. Sie sollten sie nicht nur als etwas Vergangenes bewahren, sondern sie in der Gegenwart beachten und sie ihren Kindern lehren: sie sollten die Gebote heute tun.

Moses Worte wurden aber Jahrhunderte später auf die Probe gestellt, als viele Israeliten nach Babylon verschleppt worden waren. Das Land war verloren, die Stadt Jerusalem war erobert, der Tempel war zerstört worden. Schreckliche Kriegserlebnisse, wie sie eroberte Völker erleiden müssen, mussten verarbeitet werden: körperliche und seelische Verletzungen, Traumata, Trauer um Familienmitglieder und Freunde, die Zerstörung und der Verlust der Heimat. Dies führte zu einer großen Glaubenskrise. Sie fragten sich: Wie konnte Gott diesen Schmerz seines Volkes zulassen? Hatte er sie verstoßen und bestraft? Oder war er sogar selbst von den mächtigeren Göttern Babylons besiegt worden?

Wenn sie dann aber an die eigene Geschichte in dem Land zurückdachten, mussten sie sich eingestehen, dass es besonders in den letzten Jahrzehnten viele falsche politische Entscheidungen gegeben hatte. Die Mahnungen der Propheten waren nicht beachtet worden. Ein falsches Verhalten hatten den Krieg ausgelöst, und die Verschleppung in das fremde Land zur Folge gehabt. Doch das sollte nicht das Ende sein!

Moses Worte machten ihnen Mut: Denn auch in der Fremde konnten sie Gottes Gebot hören. Es war nicht nur in der alten Heimat, im Tempel zu hören. Es war auch nicht im Himmel geblieben, denn sie waren Mose doch übergeben worden. Es war auch nicht jenseits des Meeres, unerreichbar weit fort für ein Volk, das keine Seefahrt betrieb. Es ist sehr nah, weil Gott es jederzeit nahekommen lässt. Und deshalb kann es, egal wo, heute gehört und getan werden.

Ist das nur ein kleiner Trost für eine trostlose Wirklichkeit? Nein. Dieses Gebot bestätigt die Verbindung zwischen Gott und seinem Volk. Sie ist nicht beendet, sondern das Gebot soll ihnen Trost und Kraft in ihrem Alltag geben. Auch in der Fremde. Auch in der Unterdrückung. Auch in der Krise. Die Gebote enthalten eine Anrede und ein Zutrauen, sie können und dürfen sich an die Gebote halten. Sie sind ihnen anvertraut, sie sind machbar. Allezeit. Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust. Beim Gebet tragen Juden eine Gebetskapsel mit Thoraworten an der Stirn und die Gebetsrimen um Arme und Hände gewickelt. So zeigen sie die Verbindung der Thora mit dem Denken, dem Herzen und den Händen des Beters...

Gottes Gebote sind durch Menschen verständlich und nahegebracht, ausgelegt und auf die Gegenwart bezogen worden – durch Mose, durch Gesetzeslehrer, für uns Christen durch Jesus, durch Kirchenväter und -mütter, durch Menschen, die Recht und Gerechtigkeit für ihr Land anstrebten und auch durch Friedenstifter, die Menschenrechte für alle einfordern.

Und Gottes Gebote kommen uns heute nahe, wenn wir sie auf unsere Welt beziehen. Sie erinnern uns daran, dass Gott das Leben auf der Erde schafft und erhält. Dass er uns das Leben schenkt und wir die Schöpfung und die Vielfalt schützen sollen. Die Gebote erinnern uns auch daran, dass Gott am Anfang sein unterdrücktes Volk aus der Sklaverei befreien ließ. Und dass er auch uns befreit und wir der Unterdrückung von Schwächeren entgegentreten sollen. Die 10 Gebote werden heute erklärt und ausgelegt, damit sie unseren Kindern verständlich werden und sie sich daranhalten können. Denn sie fördern das Zusammenleben.

In diesen Wochen sind uns beunruhigende Themen nahegekommen, dazu gehören sicher die steigenden Zahlen der an COVID 19 Infizierten. Die Planung der Herbstferien wird dadurch erschwert. Es ist nicht einfach das nachzuholen, was schon im Sommer ausgefallen ist. Und die Frustration steigt. Der Jahrestag des Attentats in der letzten Woche auf eine Synagoge in Halle erinnert an den versteckten Antisemitismus in unserer Gesellschaft. Es scheint mehr nötig als Solidarität mit den jüdischen Gemeinden, schon den Anfängen soll begegnet werden. Auch die Diskussion um die Aufnahme der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln ist noch im vollen Gang. Wird es eine Einigung auf europäischer Ebene geben? Und die Bilder von den Überschwem-mungen und Bränden erschrecken uns sehr. Die Klimaveränderungen richten große Zerstörungen an... Es gibt viele beunruhigende Themen in diesen Herbstwochen.

Und hinzu kommen unsere persönlichen Belastungen: wir werden betroffen durch die Trennungen von Menschen in Pflegeeinrichtungen, durch schwere Erkrankungen von Freunden, durch Abschiede von geliebten Menschen im engsten Kreis und durch die Sorge um die Zukunft der Kinder und Enkel...Aber es gibt auch etwas, was uns trotz allem hält: einfach das Nötige und das Gerechte zu tun. Das kann uns beschäftigen. Das kann uns mit Sinn erfüllen. Die kleineren und größeren notwendigen Schritte. Das erkenne ich bei vielen ehrenamtlich engagierten Menschen - hier in unserer Gemeinde und anderswo. Männer und Frauen engagieren sich für eine gute Sache, freiwillig und ohne Bezahlung. Sie spüren, dass sich ihr Einsatz lohnt, dass sie etwas Sinnvolles tun, dass sie Anerkennung erhalten. So können sie auch Geduld für ihre Aufgabe aufbringen. Nicht aufgeben, sondern das Nötige tun.

Das Wort Gottes ist ganz nahegekommen: in den Mund, in das Herz und in das Tun. Das Gerechte von Herzen tun! Was das ist, dass wissen wir. Ob wir es immer einhalten können? Ob wir es immer tun wollen? Aber wir bemerken es schnell, ob unser Tun den Geboten Gottes entspricht. In den turbulenten Wochen hat es etwas Beständiges und Demütiges, einfach das Nötige und das Gerechte zu tun. Wir können das Gerechte als Chance begreifen und es zu tun. Wir können auf den Sieg des Gerechten hoffen und auf Gottes Gerechtigkeit vertrauen. Wir können uns für die Gerechtigkeit gewinnen lassen und immer wieder einfach fair sein.

Es liegt ein großes Zutrauen darin, dass wir die Gebote hören, sagen und leben können. Und es sind auch schon die vielen, kleine Dingen, die für andere getan werden können – gern, überzeugt und von Herzen.

Amen.