Predigt von Rabbiner Dr. Gabor Lengyel (Hannover)
über Gedenk- und Erinnerungskultur
am 14. November 2021 (Volkstrauertag)

Liebe Freundinnen und Freunde!

Es ist eine große Ehre für mich, am Sonntag vor euch sprechen zu dürfen. Danke für die Einladung!

Ich wurde gebeten einige Gedanken zur jüdischen Erinnerung und auch einige Worte zur Gedenkkultur in Deutschland mit euch zu teilen.

Wir beten am Jom Kippur das Jiskor-Gebet, ein spezielles Gebet zum Andenken, Erinnerung an unseren Verstorbenen.

Der hebräische Imperativ Zachor bedeutet: erinnere dich.

Im 5. Buch Moses, Dewarim im Kapitel 4, Vers 32 lesen wir:

„Erkundige dich nur nach den alten Zeiten, die vor dir gewesen sind, von dem Tage an, als Gott den Menschen auf der Erde erschaffen hat...“

und im Kapitel 16, Vers 3 im gleichen Buch:

„...denn du bist mit Eilfertigkeit aus Mizrajim gegangen, damit du also Zeit deines Lebens dich des Tages erinnerst, an dem du aus Mizrajim gezogen bist“.

Die Bibel gibt uns den Befehl, sich zu erinnern!! Das Verb „zachar“, also das Erinnern, erscheint 169-mal in der Bibel.

Was war das, worauf sich die Juden erinnern sollten und in welcher Form?

„ gedenke die uralten Zeiten, betrachte die Jahre voriger Geschlechter“.

Die Jüdische Erinnerung erfolgt auf zwei Feldern: in den Ritualen und in der Lesung. Das praktizieren wir in jedem Gottesdienst.

Ein Paradebeispiel für das Wechselspiel von Ritual und Rezitation bietet das Zeremoniell der ersten Früchte, wieder im 5. Buch Moses, Kapitel 26, Verse 5-9:

„Hierauf sollst du (Moses) vor dem Ewigen, deinem Gott, folgende Rede halten: Mein Vater, der zu Aram wohnte, musste herumirren, zog nach Mizrajim, lebte da selbst als Fremdling mit einer kleinen Familie und wurde zu einer großen, mächtigen und zahlreichen Nation.

Die Ägypter aber behandelten uns übel, unterdrückten uns und legten uns schwere Arbeit auf. Wir schrien zu dem Ewigen, dem Gott unserer Vorfahren. Der Ewige erhöhte unsere Stimme und hatte ein Einsehen in unser Elend, führte uns aus Mizrajim heraus mit starker Hand, mit ausgestrecktem Arm, mit großer und furchtbarer Tat, durch Zeichen und Wunder, brachte uns an diesem Ort und gab uns dieses Land, ein Land, wo Milch und Honig fließt“.

Wie war es nun im Mittelalter, welche waren denn die Träger der Jüdischen Erinnerung?

Auch im Mittelalter wurden die jüdischen Erinnerungen in erster Linie über die Rituale und über die Liturgie verbreitet.

Die Rituale und die Liturgie der Erinnerung sind ausgewählte Erinnerungen. All das können wir am klarsten sehen am Seder-Abend zum Pessach, das ist ein Musterbeispiel zur Förderung der Gruppenerinnerung und zu der Gruppenidentifikation!  Der ganze Seder-Abend ist nichts anderes als ein geschichtliches Drehbuch, welches drei Akten aufweist: die Sklaverei, die Rettung und die Erlösung.

Und es geht in der Haggadah so weiter: „In jeder Generation ist ein Mensch verpflichtet, sich selbst so zu betrachten, als ob er aus Ägypten gezogen sei“.

Die wichtigsten literarischen und religiösen Antworten auf die historischen Katastrophen der Juden kamen durch die Aufnahme in die sog. Bußgebete (auf Hebräisch Slichot), die auch einen Eingang in die synagogale Liturgie, insbesondere in diesen Tagen, gefunden haben.

Darüber hinaus entstanden auch die sog. Memorbücher („die Erinnerungs- bzw. Gedenkbücher“). In diesen Gedenkbüchern wurden nicht nur die bekannten großen Gelehrten, sondern auch die verschiedenen Verfolgungen und Vertreibungen aufgelistet und die Märtyrer wurden namentlich genannt. Die Namen wurden dann während der besonderen Gottesdienste zur Erinnerung an den Toten in der Synagoge vorgelesen.

 Es ist jedoch interessant, dass viele andere Katastrophen, die nicht in die Rituale aufgenommen worden sind, in Vergessenheit geraten sind!

 Was geschah in der Neuzeit?

 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbreitete sich die Haskala, d.h. die Aufklärungsbewegung, in der Spitze stehend die aufklärerische Bewegung der deutschen Juden.

Die sog. goldene Zeit der Juden im 19. Jahrhundert fällt mit dem Beginn des modernen Nationalismus zusammen. Von den Juden aber hat man verlangt, dass wenn sie die Emanzipation wollen, dann sollen sie sich nicht mehr als Volk, sondern nur als eine Religion betrachten.

Fast nahezu alle Gelehrten der „Wissenschaft des Judentums“ tendierten dazu dieser Forderung zu folgen. Dementsprechend wurde das nationale Element aus der Liturgie komplett herausgenommen. Relativ schnell hat man erkannt, ich füge hinzu: wie gut das es so geschehen ist, dass der Begriff Am Jisrael, das jüdische Volk sehr wichtig ist.

Eine ganz andere Einstellung finden wir in der modernen hebräischen Literatur in den ersten 10-20 Jahren nach der Staatsgründung Israels. Ein Beispiel hierfür die Novelle von Chaim Hazaz: „die Predigt“.

In einem Kibbuz ist eine Versammlung und Judit überrascht die Anwesenden mit ihren Gedanken:

„Ich möchte euch sagen, dass ich gegen die Jüdische Geschichte bin! Ich würde einfach verbieten, dass meine Kinder jüdische Geschichte lernen. Warum zum Teufel sollen wir unseren Kindern von der Schande unserer Vorfahren erzählen?“

Judit im Kibbuz hat eine Abneigung gegenüber der jüdischen Geschichte, weil sie meint, dass die Jüdische Geschichte nicht anderes ist als die Geschichte darüber, auf welche Weise die Juden im Laufe der Geschichte starben.

Sehr interessant ist im Rahmen der Betrachtungen über die Erinnerung, die Frage des Vergessens hinterzufragen. Der bekannte Psychologe aus Russland, Alexander Romanics Luria sagte: „zwischen uns viele beschäftigen sich damit, wie können sie ihre Erinnerungsfähigkeit verbessern, keine von uns stellt die Frage, wie wir vergessen sollten, bzw. wie wir das Vergessen lernen sollten“.

Wo ist die Grenze zwischen Erinnern und Vergessen? Worauf sollten wir uns erinnern? Wie viel dürfen wir vergessen?

In der Bibel lesen wir nur die Warnungen gegen das Vergessen.

Im 5. Buch Moses, im Dewarim, Kapitel 8 in den Versen 11 und 19 stehen:

„Hüte dich aber, dass du den Ewigen, deinen Gott, nicht insoweit vergisst, und es geht weiter: „Wirst du aber den Ewigen, deinem Gott, vergessen und anderen Göttern nachfolgen und sie anbeten, so bezeuge ich heute über euch, dass ihr zu Grund ergehen werdet“.

Ein ganzes Volk wird wegen des Vergessens zur Verantwortung gezogen. Es ist also das kollektive Vergessen genauso problematisch, wie die kollektive Erinnerung.

Wenn wir sagen, dass sich ein ganzes Volk „erinnert“, in der Wahrheit sagen wir, dass unsere Vorfahren die Vergangenheit aktiv an unsere heutige Generation weitergegeben haben.

Am Sederabend sagen wir: „Erzähle deinen Kindern…“ Und jeden Freitagabend erinnern wir uns an die Schöpfung und an den Auszug aus Ägypten. Das ist praktische jüdische Erinnerung!

 Nun lassen Sie mich einige Gedanken zur Gedenkkultur in Deutschland hin fügen:

Das Thema „Gedenkkultur“ ist sehr umfangreich, Meterlange Bücherregale können damit gefüllt werden. Kann ich etwas Neues sagen?  

Der Historiker Reinhart Koselleck schrieb einmal, Zitat: „die Problematik des nationalen Gedächtnisses: Es gibt keine Sinnstiftung, die rückwirkend die Totalität der Verbrechen der nationalsozialistischen Deutschen einholen oder einlösen könnte. Dieser negative Befund prägt unser Gedächtnis“.

Der bekannte jüdische Historiker Saul Friedländer fügte hinzu: „Wo es um den Holocaust geht, spielt Gedächtnis auf ganz verschiedenen Ebenen eine Rolle, als Erfahrungsgedächtnis der Überlebenden und als Erinnerungsgebot für die Menschheit“.

Wir können feststellen, dass im Gegensatz etwa zum Genozid an den Armeniern, ist der Holocaust heute das am besten dokumentierte Menschheitsverbrechen. Er ist präsent in Gedenkstätten, Museen, Archiven, Ausstellungen, Dokumentationszentren, Denkmälern und künstlichen Installationen, in Büchern, Fernsehserien, Filmen und Videozeugnissen…Ein Gefahr für die Zukunft besteht nicht im Vergessen, sondern in der Verflachung und Verengung der Erinnerung.

Eine weitere Gefahr besteht in der Delegierung, nämlich die Erinnerungsarbeit wird an den Spezialisten delegiert. Das Erinnern wird dann zu einer Aufgabe, die in guten und kompetenten Händen ist, aber diese - wenn wir ehrlich sind - geht an der Bevölkerung weitgehend vorbei.

Ich möchte aber auch einige kritische Stimmen zu der Gedenkkultur in Erinnerung rufen.

Ein Freund in Hannover, der Historiker und Journalist Dr. Daniel Alexander Schacht schrieb bereist vor elf Jahren folgendes: „Vor 65 Jahren wurde Auschwitz befreit. In Israel ist der Holocaust Teil der nationalen Identität. In Deutschland zählt die Verantwortung dafür zur Staatsräson. Die junge Generation empfindet beides oft als bloßes Ritual. Jetzt bricht man in beiden Ländern zu neuen Wegen der Erinnerung auf...“

Ein anderer Freund, Prof. Dr. Micha Brumlik aus Berlin schrieb zu 27. Januar 2011, folgende Zeilen:  

„Vor 15 Jahren erklärte der damalige deutsche Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. Doch bis heute erreicht dieser Termin nur ein eher kleines Publikum… Tatsächlich lassen Dringlichkeit, Schmerz und Betroffenheit von Generation zu Generation nach, sofern nicht bestimmte Erinnerungsrituale mindestens kurzzeitig ein intensives Erleben provozieren. Darüber Klage zu führen, ist ungefähr so sinnvoll, wie den Wechsel der Jahreszeiten zu bedauern“.

Der jüdische Historiker aus Canada, Y. Michael Bodemann, schrieb sogar ein sehr provozierendes Buch bereits im Jahre 1996, mit dem Titel: „Gedächtnistheater - Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung“.

Meine lieben Freuden*Freundinnen,

Ein anderer Freund von mir, Prof. Dr. Jens Christian Wagner, seit einem Jahr Direktor der Gedenkstätte Buchenwald richtete zum 27. Januar in diesem Jahr an die Zuhörer folgen Botschaft:

„Wie stelle ich mir eine zukunftsgerichteten Erinnerungskultur vor: Nicht Appellation, sondern Reflexion sollte im Mittelpunkt des heutigen Umgangs mit der NS-Geschichte stehen. Anders formuliert: Nicht Bekenntnis, sondern Erkenntnis ist das Ziel. Zum Nachdenken und ethisch fundierten Handeln anzuregen, das sollte auch im Mittelpunkt von Gedenktagen wie dem 27. Januar stehen.

Es geht um selbstbestimmte Reflexion der Vergangenheit und darum, historisches Urteilsvermögen zu stärken. Für die Arbeit in den Schulen und Gedenkstätten bedeutet das, dass nicht einfache Antworten gegeben werden und auch keine simple Heilsgeschichte präsentiert wird, nach dem Motto: Aus dem Bösen wird das Gute. Nein, es geht darum, Fragen aufzuwerfen: Wer hat etwas getan, warum hat er es getan, welche Folgen hatte das für die Opfer, wer waren die Opfer, in welchem Kontext geschahen die Verbrechen.

Ziel muss es sein, selbstkritisch unsere eigene politische, ethische und soziale Haltung im heutigen Leben zu hinterfragen. Damit ist der immer wieder geforderte Aktualitätsbezug hergestellt... Und schließlich ist damit auch die Frage beantwortet, die sich viele Menschen in Deutschland, vor allem die jüngeren, immer wieder stellen: Was geht uns heute, nach so langer Zeit, noch die Geschichte der NS-Verbrechen und ihrer Opfer an?

Eine solche aktive, kritische, gegenwartsbezogene und handlungsorientierte Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ist mühsamer als das unterschiedslose Beweinen der Toten des 20. Jahrhunderts oder der Konsum hohler Pathosformeln. Nachdenken und forschendes Lernen sind anstrengend. Aber sie lohnen sich – auch am 9. November und am 27. Januar, vor allem aber an den übrigen 364 Tagen im Jahr, und nicht nur in den Gedenkstätten, sondern in der gesamten Gesellschaft, in Schulen und Universitäten, am Arbeitsplatz, in Kirchen und Synagogen, in Vereinen, in den Parteien, im Freundes- und Familienkreis. Es liegt in unser aller Hand, ob wir in einer humanen, friedlichen Gesellschaft ohne Rassismus und Antisemitismus leben oder nicht.“

Vielen Dank!