Liebe Gemeinde,

„können wir noch miteinander reden?“

Das fragte gestern mit großer Schlagzeile eine überregionale Tageszeitung. Und spielt damit an auf die Verhärtung in unserer Gesellschaft. Auch auf die Müdigkeit gegenüber dem neuen Hauptwort unserer Zeit, bestehend aus sechs Buchstaben. Latein ist wieder da: Corona…

Unser Bibeltext kommt da gerade richtig. An der Schwelle zwischen Weihnachts- und Passionszeit will er uns Kraft geben. Etwas noch mitnehmen vom Licht des Dezembers in das Grau des Februars!

Ich finde, der Text ist so reichhaltig, dass ich mich als Prediger sehr beschränken muss. Kraft und Licht, die beiden Worte haben einen weniger als sechs Buchstaben. Ich versuche eine Schneise in den Text freizulegen mit 4 × 5 Buchstaben:

Reden – Glanz – Decke – Gebot.

Liebe Gemeinde, reden! Das ist das heimliche Hauptwort, es kommt in fast jedem der sieben Verse vor: ...weil Mose mit Gott geredet hatte...er redete mit Ihnen...er redete wieder mit Gott...und als er dies alles mit ihnen geredet hatte…

Dies alles, das sind die Zehn Gebote. Jetzt sind sie wieder da. Vorher war Schweigen. Das Volk in der Wüste – es war kaputt. Von den enormen Anstrengungen der Wanderung. Und von seinem Fehlversuch. Mit dem goldenen Kalb wollte sich Israel einen Gott zum Anfassen bauen. Einen, um den herum man tanzen konnte. Ein Symbol der Kraft, der Frische, aber eben auch des Materiellen. Des Gegenteils von dem Einen: Dem wahren, dem unsichtbaren, dem unverfügbaren Gott. Aus, vorbei, der wütende Mose zerstört das falsche Gottesbild. Und in seinem Zorn haut er die beiden Tafeln mit den Geboten gleich mit kaputt. Bevor er dann doch wieder mit dem einen Gott redet. Und ihn um Vergebung bittet für das halsstarrige Volk. Für seinen Verstoß gegen das erste und zweite Gebot gleichzeitig.

Und jetzt, jetzt können sich die Zungen wieder lösen. Jetzt wird wieder kommuniziert und geredet. Jetzt kann es bald vorangehen auf dem harten Weg durch die Wüste. Der doch ein Weg mit einem Ziel ist: Aufbruch aus der Sklaverei – gelobtes Land, das macht euch frei!

Zweites Fünf-Buchstaben-Wort: der Glanz auf Moses Angesicht. In meiner Bibel die Überschrift über diesen Schlussakkord des zweiten Bundesschlusses vom Sinai.

Vorletzten Sonntag hörten wir aus dem vorangehenden Kapitel (33,18-23), dass Mose Gottes Herrlichkeit, seine kawod, sehen will. Und der Allerhöchste zieht die Grenze: Du kannst mir nur hinterhersehen! Hier scheint nun aber doch noch größere Nähe entstanden zu sein. In jener Hütte, in der Gott mit Mose wie ein Mann mit seinem Freunde redet.

Kaum auszuhalten war es für das Volk: Auch wenn Mose nur einen Abglanz des Lichtes ausstrahlt, dem er ausgesetzt war. Das ist zunächst zu viel für sie. Erst wendet sich sein Bruder Aaron ihm wieder zu, auf Moses Rufen hin, dann das Presbyterium. Schritt für Schritt kommen sich die Volksgenossen wieder näher.

Das hebräische Wort keren ist so ähnlich wie das von Gottes kawod nicht leicht im Deutschen zu fassen. Luther spricht von Glanz, Zwingli und die Basis-Bibel lassen sein Gesicht strahlen. Und die christliche Ikonographie, die klassische Kunst, lässt dem Propheten Hörner wachsen. Die dann auch antisemitisch noch immer zu oft ganz spitz werden und sich zu Teufelshörnern auswachsen. Man hat das immer auf einen Abschreibfehler der lateinischen Bibel zurückgeführt, der Vulgata. Die aus dem facies coronata, dem strahlenden, ein facies cornata, ein gehörntes Gesicht machte. Allein, auch im Hebräischen ist die zweite Bedeutung Horn für keren belegt. Ich stelle mir vor, dass das Strahlen so hell ist, so unfassbar, dass es in der Darstellung nach einer Form der Ausstrahlung verlangt. Nach einer Art Ausbuchtung des Gesichtes. Ich fand in einem katholischen Bilderlexikon noch die Erklärung von zwei Augenflammen von Mose. Beim jüdischen Künstler Marc Chagall hat Israels Anführer durchaus zwei, ja sagen wir es in Anführungsstrichen: „Hörner“. Das Strahlen, der Lichtglanz Gottes, sprengt und drängt menschliche Ausdrucksmöglichkeiten nach außen…

Kommen wir zu dem dritten Leitwort des Textes: Decke. Auch schwer übersetzbar. Die Zürcher Bibel nennt es eine Hülle, die Basis-Bibel eine Priestermaske. Das Gerät, das Mose immer dann anlegt, wenn er weder mit Gott noch mit dem Volk spricht. Was war es nun genau? Man hat leider kein Foto von damals…

Ich bleibe mal bei Luthers Decke.

Der kluge Apostel Paulus hat im 2. Korintherbrief (3,13-15) einen großen Bock geschossen. Er erklärt, erst in Jesus Christus sei allem Volk die Decke weggezogen, die Mose noch daran gehindert hätte, Gottes Wahrheit zu erkennen. Dabei hat Mose, wie wir gehört haben, die Decke nur zwischendurch über sich.  Die Offenbarung am Sinai ist bereits eine zu 100 Prozent! Beide Weisen Gottes, sich den Menschen zu zeigen, sind voll da: Der Abglanz seiner kawod, seiner Herrlichkeit, reicht völlig aus zur Erleuchtung. Und die Gebote sind vollständig. Es ist alles getan und gesagt: Gottes Herrlichkeit und Gottes Wort sind in Kraft gesetzt.

Liebe Gemeinde, so ähnlich fatal wie Moses Hörner satanisch spitz wurden, hat auch die „blickdichte“ Decke in eine christlich-jüdische Vergegnung (M. Buber) geführt.

Wir kennen aus der bildenden Kunst die vielen Darstellungen der triumphierenden Kirche als Frauengestalt. Der die Synagoge mit einer Binde vor Augen als Negativ-Zerrbild gegenübersteht. Berühmt-berüchtigt am Straßburger Münster, aber auch viel näher gelegen am Magdeburger Dom.

Kurz nach dem Auschwitz-Gedenktag 27. Januar möchte ich uns eine andere Möglichkeit vor Augen führen, die Decke zu interpretieren: Die im Buch Exodus so sorgfältig geschilderte Geste des Auflegens und des Abtuns der Decke ist doch eine Geste der Demut! Mose ist der Träger der beiden Steinplatten vom Sinai, die von dem Einen persönlich beschrieben sind. Wer heute in der Synagoge die Gebotstafeln, die Torarollen, tragen darf, holt sie aus dem heiligen Schrank, dem Aron HaKodesch. Und vorher zieht er oder sie eine Art Gardine, eine Decke, weg!

Dieses Ritual bedeutet eine große Ehre für Träger und Getragenes. Die Tora ist nicht dauerhaft sichtbar, sie wird geschützt. Ihr wird eine Hochachtung entgegengebracht, wir können auch sagen: Respekt. Sie wird geschützt davor, in den Schmutz gezogen zu werden.

Reden – Glanz – Decke. Ich komme zum Schluss: Gebot. Zunächst mit Worten des jüdischen Gelehrten von der Hochschule Potsdam, Daniel Krochmalnik, zur Bedeutung der Zehn Worte:

„Die Aura des Mose wird nicht als Ergebnis eines mystischen Gipfelerlebnisses präsentiert. Sie wird ausdrücklich auf die göttlichen Worte zurückgeführt, die der Prophet in Stein geschlagen vom Gipfel mitbringt. Mose strahlt die Würde des Gesetzes aus, d. i. die gebotene Erhabenheit des göttlichen Gesetzgebers auf der ersten Tafel und die gebotene Unantastbarkeit des Nächsten – seines Lebens, seines Körpers, seines Rufes und seines Besitzes - auf der zweiten Tafel.“

Die Aura des Mose – anders als mit merkwürdigen Hörnern kommt sie uns in nicht wenigen alten Kirchen auch positiv entgegen. Zuletzt sah ich das sehr schön in Sankt Nikolai in Eckernförde: Mose mit den beiden Tafeln als Träger der Kanzel. Ohne den jede christliche Predigt zusammenbricht. Ich komme zurück an den Anfang: Heute geht es genau wie damals darum, miteinander zu reden. In einer Zeit, die in Resignation zu versinken droht. Gottes Wort laut werden zu lassen. Das uns dazu anstiftet, aufeinander zuzugehen und immer neu das Gespräch zu suchen. Gerade mit denen, die anders denken, so schwer es auch manchmal fällt.

Jesus selbst fasst die Zehn Gebote zusammen im Doppelgebot der Liebe. Das auch uns aus Erstarrung lösen und voranbringen will: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft. Das andere ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Markus 12,30f)