Predigt von Pastor Rehbein am 31.12.2021
über das Lied "Von guten Mächten wunderbar geborgen" (Dietrich Bonhoeffer)

Liebe Gemeinde,

in dieser Jahresbilanz fehlt sie noch – aber zu einem der nächsten Silvester steht sie ins Haus, die Zahl: unter 50 %. Dann wird nur noch weniger als die Hälfte unserer Bevölkerung Kirchenmitglied sein. Parallel wird das Schwinden von Bibelwissen beklagt. Und kaum noch jemand kennt die Lieder aus unserem Gesangbuch. Und es stimmt ja: Als ich vor 35 Jahren als Vikar anfing in dieser Gemeinde, wurde bei Beerdigungen noch ganz selbstverständlich gesungen: Befiehl du deine Wege, Jesu geh voran, Ach bleib mit deiner Gnade und in Barsinghausen sogar Harre meine Seele. Kennt heute kaum noch jemand. Üblich geworden auch bei kirchlichen Trauerfeier sind CDs mit zweifelhaften Liedern von Andreas Gabalier und dem gerade noch erträglichen Frank Sinatra: I did it my way…

Und dann mache ich da eine gegenläufige Beobachtung. Die Nummer Eins der Gesangbuch-Hitparade, die 10000 Menschen in diesem Jahr gewählt haben: Das Bonhoeffer-Lied, fälschlich auch als Silvester-Lied 1944 verbucht, entstanden im Gestapo-Gefängnis zu Berlin. Dessen letzte Strophe lautet: Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist – nein, nicht mit – sondern bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag. Bereits am 19. Dezember 1944 geschrieben und ursprünglich als ein Gedicht, zudem keine bekannte Melodie metrisch passte. Dazu später noch mehr. Mir ist zunächst wichtig, wie vielen Menschen in unserer entchristlichten Gesellschaft eben diese Worte vertraut sind. Am Ende einer Predigt auf dem Friedhof spreche ich sie oft – und ich staune immer wieder, wie viele Lippen sich dann mitbewegen. Auch von Menschen unter 60. Woran das liegt? Ich stelle mal die These auf, das Lied steht in den Kirchencharts ganz oben weniger wegen der Melodie. Sondern wegen des hervorragenden Textes. Denn in dem ganzen Gedicht und besonders im letzten Vers, da stimmt jedes Wort! Dürfte die Heilige Schrift noch erweitert werden, dann würde ich es als 151. Psalm vorschlagen. Manchmal trifft der Geschmack der Menge es eben doch – oder nennen wir es Schwarmintelligenz...

Wolfgang Huber nennt Von guten Mächten Bonhoeffers Vermächtnis. Das seine theologischen Denkbewegungen aus den zwei Gefängnisjahren zusammenfasst. Er fordert eine neue Sprache. Gott sei längst kein Lückenbüßer mehr für alles den Menschen Unerklärliche. Also kein deus ex machina. Auf Christus hätten wir zu schauen! In der Ohnmacht der Krippe und des Kreuzes, da allein sei Gott in schwerer Zeit erkennbar. Allein durch seine Ohnmacht gewönne er in unserer Welt wieder Macht und Raum. Und davon ausgehend kann Bonhoeffer dann die Gottesvorstellung weiten. Von guten Mächten im Plural sprechen, die er dann noch näher beschreibt in dem Brief, den das Gedicht begleitet. Es sind errungene, erkämpfte Worte. Denn der Gefangene weiß ja um seine Situation. Es geht um Leben und Tod. Seine gut getarnte Widerstandstätigkeit - zusammen mit Schwager Hans von Dohnanyi - ist aufgeflogen. Dass er wenige Monate später noch hingerichtet werden wird, das kann er schon vorahnen: Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern, des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir Ihnen dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand. Dahin kann die Nachfolge, so ein früherer Buchtitel des Theologen, dahin kann die Nachfolge Christi führen. Diesen Hintergrund des Gedichtes vergessen wir allzu leicht, wenn der siebte Vers vor einem  kitschigen Sonnenuntergangs-Foto im Kalender abgedruckt erscheint. Da passt schon eher die brennende Kerze hier, die ein Ehepaar mir zu Weihnachten schenkte. Bonhoeffer sieht weg von einem Gott, der von oben rettend eingreift. Und er sieht hin zu den guten Mächten um uns herum, nach denen auch heute so viele sich sehnen. Angesichts des schweren Todes naher Angehöriger. Und angesichts gesellschaftlicher Ängste wie Klima und Corona. Wunderbar geborgen? Diese beiden Worte beschreiben unsere Sehnsucht, unseren Wunsch. Woher kommt mir Hilfe? (Psalm 121,1) Beständige Zuversicht?  Bonhoeffers Trost ist fest verankert schon im 1. Kapitel der Heiligen Schrift. Zuerst war da nur Dunkelheit – und dann schuf Gott das Licht. Der Sabbat beginnt am Abend, wenn drei Sterne zu sehen sind am Himmel. So ward aus Abend und Morgen der erste Tag. Der zweite, der dritte und so weiter. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag. Damit will der 38-jährige Sohn seine Eltern, der die Heirat mit der so geliebten Maria kaum mehr Erwartende seine Verlobte – ja, trösten! Apropos Maria. Die hatte als Besucherin Einfluss gewonnen auf Franz Xaver Sonderegger, den Gefängniswärter der Gestapo, der für Bonhoeffer zuständig war. Der drückte beide Augen zu, als sie den Weihnachtsbrief herausschmuggelte. Geschrieben, wie gesagt, bereits am 19. Dezember, Und das gleich für Silvester mit:… und mit euch gehen in ein neues Jahr. Der Begleitbrief des Gedichtes öffnet unsere Augen, wie einfach der intellektuell herausragende Theologiewissenschaftler das alles sieht. Ich zitiere: Wenn es im alten Kinderlied (dem von den 14 Engeln aus der Oper Hänsel und Gretel von Engel(!)bert Humperdinck) heißt 'Zweie die mich decken, zweie die mich wecken', so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder. Also naiver Engelglaube beim großen Denker Dietrich Bonhoeffer? Ja, eben das, was wir heute so gern Resilienz nennen. Ich nenne es hier lieber Urvertrauen. Bonhoeffer glaubt, nein er weiß sogar, dass Gottes Präsenz durch lebendige Erinnerung in ihn eingepflanzt ist. Hören Sie die bewegenden Worte aus dem Trostbrief, in denen er seine Engel beschreibt: Es ist als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt. Du, die Eltern, ihr alle, die Freunde und Schüler im Feld, ihr seid mir immer ganz gegenwärtig. Eure Gebete und guten Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke, Bücher bekommen Leben und Wirklichkeit wie nie zuvor.

Liebe Gemeinde, mit Diesen Gedanken können auch wir gehen – in ein neues Jahr. Von dem viele sagen, es wird das dritte unter Corona. Als Christenmenschen sehen wir es anders: Es ist ein weiteres Jahr unter Gott. Oder sagen wir lieber mit Gott? Nein, das stand auf den Koppelschlössern deutscher Soldaten im ersten Weltkrieg und erwies sich als fataler Irrtum. Gott mit uns – solch überhebliche Sicherheit führt in die Irre. Auch in den ethischen Diskussionen heute – wie zum Beispiel der über die Impfpflicht. Gott ist nicht mit uns in dem Sinne, dass wir als sogar schon Geboosterte automatisch auf der richtigen Seite stehen. Gott ist bei uns, wenn wir mit Urvertrauen und Verstand nach einem Weg durch die Viruszeit hindurch suchen! Und dabei noch immer die mit zur Wahrnehmung sozialer Verantwortung hin bewegen versuchen, die anders denken und empfinden. Können Sie noch ein paar Zeilen Bonhoeffer vertragen zum Ende? Ich lese seine Auslegung zu Psalm 119: Wohl denen, die im Gesetz des HERRN wandeln. Auch sie hilft, allem Kirchenmitgliederschwund zum Trotz getröstet und aufrecht in die Zukunft zu gehen.

„Einen Tag um den anderen auf den neuen Anfang zu warten, ihn unzählige Male gefunden zu haben meinen, um ihn am Abend wieder verloren zu geben, das ist die vollkommene Zerstörung des Glaubens an den Gott, der (doch) den Anfang einmal gesetzt hat in seinem vergebenden und erneuernden Wort, in Jesus Christus, d.h. in meiner Taufe, in meiner Wiedergeburt, in meiner Bekehrung. Gott hat mich ein für alle Mal zu sich bekehrt, nicht ich habe mich ein für alle Mal zu Gott bekehrt. Gott hat den Anfang gesetzt, das ist die freudige Gewissheit des Glaubens. Darum soll ich nicht neben den einen Anfang Gottes noch zahllose eigene Anfänge zu setzen versuchen. Gerade davon bin ich befreit, der Anfang liegt ein für alle Mal hinter mir, Gottes Anfang nämlich. Nun haben die Glieder der Gemeinde einander nicht mehr auf einen neu zu setzenden Anfang anzureden, vielmehr sprechen Sie zueinander als solche, denen der neue Anfang weiter geschenkt ist und die miteinander auf dem Wege sind, dessen Anfang darin bestand, dass Gott die Seinen gefunden hat und dessen Ende immer nur darin bestehen kann, dass Gott sie wieder sucht.“ Und Gottes Friede, der weiter reicht als alle menschliche Vernunft, der wird unsere Herzen und Sinne bewahren in Christus Jesus.
Amen.