• Predigt
»Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.« Amen
I.
Liebe Gemeinde,
wenn man auf der Straße fragt, was Pfingsten bedeutet, muss man froh sein, zur Antwort zu bekommen, dass Pfingsten der ›Geburtstag der Kirche‹ sei. Doch eigentlich ist Pfingsten ein jüdisches Fest – das Wochenfest Schawuot, das 7 Wochen nach Pessach gefeiert wird. Zu diesem Wochenfest waren damals viele Menschen aus allen benachbarten Ländern in Jerusalem versammelt – Juden und Menschen, die sich zum jüdischen Glauben hielten. Die Kreuzigung Jesu durch die Römer hatte viele aufgeschreckt. Und dann gab es Berichte von seiner Auferweckung.
Doch die Jünger und Jüngerinnen waren verängstigt; sie fürchteten, dass auch sie von den römischen Behörden aufgespürt werden könnten. Sie hatten sich zurückgezogen, trafen sich nur hinter verschlossenen Türen. An öffentliche Predigten und größere Versammlungen war nicht zu denken.
Kein Aufbruch also, sondern eher Rückzug. Manche gingen an die Orte zurück, die sie für den Weg mit Jesus verlassen hatten.

Für die Jünger und Jüngerinnen waren diese 7 Wochen nach der Kreuzigung ihres Herrn ein Wechselbad der Gefühle:
Es gab Trauer und Wut, Selbstvorwürfe und Versagensgefühle, Auferstehungserfahrungen und Verfolgungsangst.
Wie sollten sie das alles verstehen, was da in kurzer Zeit passiert war? Jesus ist tot, dann ist er wieder da, und jetzt ist er wieder weg. Wie sollte es weitergehen ohne ihn? Woher sollten sie jetzt die Energie erhalten für einen Neuanfang?


II.
Liebe Gemeinde,
wir bekommen für diese Fragen heute einen Predigttext aus einem Buch vorgeschlagen, in dem wir eine Antwort eher nicht vermutet hätten. Der Predigttext stammt aus dem Buch des Propheten Ezechiel. Dieses wurde aufgeschrieben, als die Babylonier Jerusalem belagerten. Hungersnot und Seuchen waren die Folge. Nach der Eroberung kam es zu Folter, Gewalt gegen Frauen, Plünderung und Brandschatzung. Leichen stapelten sich am Wegesrand. Und wer wie Ezechiel deportiert wurde, erlebte, wie auf dem mörderischen Gewaltmarsch Freunde und Verwandte auf der Strecke blieben. Selbst wer heil in Babylonien ankam, hatte keine Hoffnung mehr, jemals wieder zurückzukehren.
Dies erklärt, warum es im Ezechiel-Buch so viele schmerzhafte Texte gibt mit widersprüchlichen, bizarren und gewaltvollen Bildern.
Hinzu kommt ein befremdlicher Inhalt: Ezechiel soll zu seinen Landsleuten reden und wird doch von Gott gefesselt und stumm gemacht (Ez 3,25-27). Er soll Jerusalems Untergang noch einmal am eigenen Leib erleben: 390 Tage lang soll er z.B. auf der linken Körperseite liegen (Ez 4,4-8), sich die Kopf- und Barthaare mit einem ›scharfen Schwert‹ scheren (Ez 5,1-4).
An anderer Stelle schildert Ezechiel eine Vision, wie Männer, Frauen und Kinder in Jerusalem getötet werden. Leichenberge füllen den Vorhof des Tempels, und nur er selber bleibt inmitten der Getöteten übrig. Er fällt auf sein Gesicht, beginnt zu schreien und macht Gott Vorhaltungen (9,5-8). (Pause)

III.
Ezechiel und alle, die ihm zuhören, sind zutiefst geschockt von den Gewalt­ereignissen. Und sie sind völlig überfordert, mit den immer wieder aufbrechenden Erinnerungen zurechtzukommen.
Und nun erhält Ezechiel als Prophet Gottes die Aufgabe, Worte zu finden, die die unglaublichen Erfahrungen aufgreifen. Ezechiel soll die schlimmen Erinnerungen in eine neue Richtung lenken.

Die große Leistung Ezechiels besteht nun darin, der nötigen Auseinandersetzung mit diesen Schreckenserfahrungen Sprache und Raum zu geben. Die Mittel, die er dabei gebraucht, sind speziell für traumatisierte Menschen ausgewählt. Brutale Bilder werden darin nicht ausgespart, weil sie ohnehin die Denkwelt der Traumatisierten bestimmen. Sie werden nun im Ringen mit Gott auf eine andere Ebene gehoben.

Hören wir den Anfang unseres Predigttextes aus Ez. 37:
1 Des HERRN Hand kam über mich und er führte mich hinaus im Geist des HERRN und stellte mich mitten auf ein weites Feld; das lag voller Totengebeine. (…) 3 Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: EWIGER, du allein weißt es. 4 Und er sprach zu mir: Weissage über diese Gebeine und sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret das Wort des EWIGEN! 5 (…) Siehe, ich will den Geist auf euch kommen lassen, dass ihr wieder lebendig werdet.

IV.
Liebe Gemeinde,
Ezechiel führt die Zuhörenden hier an den Ort ihrer Traumatisierung zurück. Diese Rückführung geschieht unter dem Schutz Gottes. Für die Zuhörenden ist damit eine Sicherung eingezogen: Nicht die aus dem Nichts aufsteigenden Erinnerungen haben hier das Regiment. Sondern Gott selbst begleitet die Traumatisierten an den gefährlichen Ort der Erinnerung. Und dort, wo sie normalerweise ohnmächtig verstummen und wo diffuse Schuldgefühle aufsteigen, steht jetzt eine Frage im Raum, die niemand je gewagt hätte zu stellen:
»Du Menschenkind, meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden?«
Das ist eine absurde Frage und gerade deshalb so wichtig, um es an diesem Ort der Totengebeine überhaupt aushalten zu können.
Denn Menschen, die traumatisiert sind, haben häufig keine Sprache. Zu brutal waren die Momente, in denen ihre Grenzen überschritten wurden. Sie versuchen mit aller Kraft, Ängste und Ohnmacht abzuwehren und niemanden an ihre Erfahrungswelt herankommen zu lassen. Die Folgen sind häufig psychische Lähmung, Rückzug aus sozialen Bezügen und eine eigentümliche Doppelbödigkeit in den Botschaften. (Pause)
Das Verstummen ist dann wie ein Gefängnis. Traumatisierte müssten eigentlich erzählen, was sich ihnen immer wieder aufdrängt. Nur so können sie das Erlittene als Teil ihrer Lebensgeschichte begreifen. Aber oft haben sie keine Sprache für das, was mit ihnen geschehen ist. Vielleicht, weil es für sinnlose Gewalt keine Sprache gibt und wohl auch nicht geben darf.

→ »Du Menschenkind, meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden?«

Indem Ezechiel von Gott diese Frage gestellt bekommt, wird ein Raum geöffnet, anders mit den Erfahrungen umzugehen. Es wird nicht die Ausweglosigkeit der Vergangenheit beschworen, sondern nach den Möglichkeiten der Zukunft gefragt.

Hören wir den nächsten Abschnitt des Predigttextes:
5 So spricht der EWIGE (...) zu diesen Gebeinen: »Siehe, ich will den Geist auf euch kommen lassen, dass ihr wieder lebendig werdet.
6 Ich lege Sehnen an euch, lasse Fleisch auf euch wachsen und überziehe euch mit Haut! (…) Ihr werdet erkennen: Ich bin der Ewige.«
7 Und ich weissagte, wie mir befohlen war. Und siehe, da rauschte es (...) und (...) die Gebeine rückten zusammen, Gebein zu Gebein. 8 Und ich sah, es wuchsen Sehnen und Fleisch darauf und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Geist in ihnen. 9 Der HERR sprach zu mir: »Rede prophetisch, du Menschenkind, und sage zum Geist: (...) Aus den vier Windrichtungen komm herbei, Geist, und hauche in diese Zerschlagenen hinein, dass sie lebendig werden!«
10 Und ich weissagte, wie er mir aufgetragen hatte. Da kam der Geist auf sie und sie wurden wieder lebendig und stellten sich auf ihre Füße – eine sehr, sehr große Zahl war es.

V.
Liebe Gemeinde,
hier wird ein Gegenbild entworfen. Ein Gegenbild zu den Bildern in den Köpfen der Israeliten: Der Gottes Geist kann den wiederbewachsenen Knochen Leben einhauchen.
Doch dieses Gegenbild allein macht noch nicht die Kraft des Prophetenwortes aus. Es ist nur die Eintrittspforte, um die gelähmten Israeliten in Jerusalem und in der Verbannung auf noch ganz andere Weise zu erreichen.

Im letzten Abschnitt unseres Predigttextes macht Ezechiel dann deutlich, dass die verdorrten Gebeine auf dem Feld ein Bild sind für seine Zuhörer und Zuhörerinnen – für die traumatisierten Israeliten, die übrig geblieben sind. Das heißt: Nicht die Toten der Vergangenheit sollen hier erweckt werden, sondern die Menschen um Ezechiel herum sind es, die in den Gräbern stecken und schon längst jede Hoffnung begraben haben.


Hören wir den letzten Abschnitt des Predigttextes:

11 Und er sprach zu mir: »Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Sieh doch, wie sie sagen: ›Unsere Knochen sind vertrocknet, unsere Hoffnung ist verloren, wir sind vom Leben abgeschnitten.‹ 12 Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht der Ewige (...): Ich bin dabei, eure Gräber zu öffnen, und lasse euch aus euren Gräbern heraufsteigen als mein Volk. Ich bringe euch ins Land Israel. (...) 14 Ich gebe meinen Geist in euch, dass ihr lebendig werdet. In eurem Land werde ich euch zur Ruhe kommen lassen, und ihr werdet erkennen: Ich bin der Ewige – ich verspreche und halte es!«

VI.
Liebe Gemeinde,
indem Ezechiel dem Trauma die Kraft nimmt, öffnet er den Raum für die Verheißungen Gottes. Denn diese sind stärker als der Tod. Ezechiel konnte das, weil er das Leiden seines Volkes Israel am eigenen Leib durchlebt hat. Zudem vertraute er darauf, dass Gott die immer wieder aufbrechenden Träume heilen und ihnen den Schrecken nimmt wird. (Pause)

Auch Jesus Christus hat am Kreuz die Leiden seines Volkes am eigenen Körper durchlebt. Die Jünger haben wie die aus Jerusalem Verschleppten die Erfahrung gemacht, alles zu verlieren. Aber Jesus wurde von Gott auferweckt und damit zur Hoffnung, dass die zerstörerischen Kräfte dieser Welt nicht das letzte Wort haben.
Spürbar wurde das 50 Tage nach der Auferweckung, als der Geist Gottes die eingeschlossenen Jünger und Jüngerinnen befreit und in die Welt hinausgesandt hat, um das Weiterzusagen, was Jesus sie gelehrt hat.
»Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.« (Phil 4,7). Amen.