Römer 12, Vers 12 - Pastor Christoph Rehbein

Predigt von Pastor Christoph Rehbein

am 22. November 2020 (Totensonntag)

2. Korinther 4,16 – 5,2

Liebe Gemeinde am Totensonntag,

in diesem Jahr ist vieles anders. Die Stadt Hannover verabschiedete letzte Woche einen defizitären Doppelhaushalt für die beiden kommenden Jahre. Coronabedingt. Und wir, das einfache Volk wie auch das Kirchenvolk, neigen zu Doppelseufzern.

Darum seufzen wir ja auch, weil wir uns danach sehnen, mit unserer himmlischen Behausung bekleidet zu werden.

Wir würden unser Sehnen wohl anders ausdrücken als der Apostel Paulus. Aber seufzen tun wir alle. Dieses Jahr liefert reichlich Gründe dafür. Ich denke jetzt besonders an diejenigen, mit denen wir an Särgen, an Urnen und an Gräbern gestanden haben. An diejenigen, die Abschied nehmen mussten von ihrem Ehepartner, von Mutter oder Vater oder einem der Geschwister. Das allein ist schwer genug. Grund zum Seufzen und zum Weinen. Ein zweites Seufzen kommt dazu: die besonderen Bedingungen in diesem Jahr, die Einschränkungen! Begrenzte Zahl der Gäste bei derTrauerfeier. Keine große Kaffeetafel im Anschluss – seit dem Monat März ist das so. Das Schlimmste, wie ich finde: keine Umarmung am Grab, nicht einmal ein Händedruck. Herzliches Beileid nur mit Worten oder den Augen zu wünschen, da seufze ich. Da fehlt etwas Entscheidendes: die Berührung. Der unmittelbare Körperkontakt.

Im zweiten Vers unseres Predigttextes spricht Paulus von der Last der Bedrängnis. Darunter können wir uns etwas vorstellen. Ich weiß wovon ich spreche, da auch ich in den beiden letzten Jahren kurz nacheinander meine Eltern verlor. Plötzlich holt die Trauer dich ein, bricht wieder auf. Manchmal ganz überraschend. Und viel öfter als ich gedacht hätte. Ich seufze, denn nun ist es zu spät, noch mal die eine oder andere Frage zu stellen. Die Stimme der Verstorbenen noch einmal live zu hören…

Die Bedrängnis, von der der Apostel spricht, ist wahrscheinlich noch eine andere. Weiter hinten im zweiten Korintherbrief deutet Paulus eine schwere Krankheit an, die ihn belastet. Von einem besonderen Schmerz, einem Pfahl im Fleisch, schreibt er. Der lässt ihn seufzen. Vielleicht dazu noch der Streit in der Gemeinde, an die er sich richtet. Streit um das Leitungspersonal, Streit um Sachthemen wie das Abendmahl.

Und nun haut er zwei Sätze raus, die aufhorchen lassen:

Die Last unserer jetzigen Bedrängnis wiegt leicht. Sie bringt uns eine weit über jedes Maß hinausgehende, unendliche Fülle an Herrlichkeit, wenn wir nicht auf das Sichtbare schauen, sondern auf das Unsichtbare.

Der kranke Apostel mit seinem Pfahl im Fleisch, der hat das offenbar geschafft. Die Frage ist, wie. Wie gelingt es ihm von all dem vor Augen liegenden Seufzer-Elend abzuschalten? Ja, umzuschalten auf das Licht der Zukunft. So, liebe Gemeinde, lautet in meiner Bibel die Überschrift über unseren Text: Die Gegenwart im Licht der Zukunft.

An dieser Stelle, finde ich, ist sie schwer zu greifen aus den begeisterten Worten des Paulus heraus. Wo ist sie zu finden, diese unendliche Fülle an Herrlichkeit? Die Gegenkraft zu aller auf uns lastenden Bedrängnis? Am Ende seines Briefes formuliert Paulus einfacher, geerdeter. Er hört die Stimme Gottes und fasst Vertrauen zu unserem Schöpfer. Ich lese 2. Korinther 12,9:

Gott hat zu mir gesagt: Du hast genug an meiner Gnade, denn die Kraft findet ihre Vollendung am Ort der Schwachheit. So rühme ich mich lieber meine Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir Wohnung nehme.

Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig - so steht es in der Lutherbibel. Das ist die Erfahrung dessen, der Jesus Christus begegnet ist. Dem, dem nichts Menschliches fremd ist. Der selber laut geseufzt hat am Kreuz. Und darunter litt, dass er Abschied nehmen musste von seinen Freunden. Dieser Christus lebt, aus dem Himmel heraus. Paulus ist ihm begegnet. Darum sagt er in unserem Text mit solcher Festigkeit:

Wir wissen: Wenn unser irdisches Haus, das Zelt, abgebrochen wird, dann haben wir eine Wohnstatt von Gott, ein nicht von Menschenhand gemachtes, unvergängliches Haus im Himmel.

Etwas knapper sagt es der Hebräerbrief 13,14: Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Genau darum, liebe Gemeinde, freue ich mich an der Helligkeit unserer Kirche. Sie hat weniger die Architektur eines Zeltes – wie die von Emlichheim oder die katholische Kirche auf Spiekeroog. Dann schon eher die eines Schiffes. Beide Symbole stehen für das Gleiche. Ein Zelt wird auf- und wieder abgebaut. Ein Schiff legt an und wieder ab. Wir sind unterwegs in Raum und Zeit. Wir kennen unser Geburtsdatum – im Gegensatz zu unserem Sterbedatum, das uns verborgen bleibt.

Gott sei Dank. In diesem Jahr haben viele von uns Grund zum Klagen, ja sogar zu Doppelseufzern. Ich finde, die Worte des Paulus geben einen festen Trost. Er ist gewiss, dass wir alle auf einem Schiff unterwegs sind, das einen Heimathafen hat!

Gestern haben wir im Konfirmandenunterricht Todesanzeige auf uns wirken lassen. Wie sie jeden Sonnabend in der Zeitung erscheinen. In unserer Zeit fällt es schon auf, wenn eine mit einem Bibelvers beginnt. Über einer Anzeige stand der Vers aus 1. Johannes 4,16: Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.

Und es folgen nur noch zwei Worte direkt über dem Namen der Verstorbenen: Zuhause angekommen. Das hat auch die Jugendlichen berührt. Das Vertrauen darauf, dass es das wirklich geben kann: Das Zuhause im Himmel, nach dem Tod. Bei Gott. Angekommen!

Ich komme jetzt wieder beim Anfang unseres Predigttextes an:

Darum verzagen wir nicht: Wenn auch unser äußerer Mensch verbraucht wird, so wird doch unser innerer Tag für Tag erneuert.

Wo er Recht hat, hat er Recht, der Apostel! Dieses Jahr hat den äußeren Menschen einige Körner gekostet. Der Vorrat an Geduld mit sich selbst und anderen ist nahezu aufgebraucht. Gerade da spüren viele Ältere, dass sie gebraucht werden von der jungen Generation. Mit ihrer Lebensklugheit des inneren Menschen, die schon andere Krisen überstanden hat.

„Vor Corona“, wie wir jetzt schon sagen...

Hermann Hesse, der Dichter, ist für einen Mann relativ alt geworden. Er verstarb im Jahr 1962 mit 85 Jahren. Hatte genug Zeit, als mehrfacher Großvater noch Gedanken zu Papier zu bringen. Es gibt ein schönes letztes Buch mit seinen Betrachtungen über das Alter. Sein Titel: Mit der Reife wird man immer jünger.

Wie sagte Paulus: Unser innerer Mensch wird erneuert!

Hermann Hesse gebührt heute das erste Schlusswort meiner Predigt. Er nenn das, was zu Doppelseufzern führt, Infamitäten: „Gegen die Infamitäten des Lebens sind die besten Waffen Tapferkeit, Eigensinn und Geduld. Und Geduld gibt Ruhe.“

Dazu noch einmal Paulus: Das Sichtbare gehört dem Augenblick. Das Unsichtbare ist ewig.

Und der Friede Gottes, der weiter reicht als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.