Predigt von Pastorin Elisabeth Griemsmann
über Daniel 9, Verse 18f
am 9. Mai 2021

Daniel 9, 18-19

Neige deine Ohren, mein Gott, und höre, tu deine Augen auf und sieh an unsere Trümmer und die Stadt, die nach deinem Namen genannt ist. Denn wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit. Ach, Herr, höre! Ach, Herr, sei gnädig! Ach, Herr, merk auf und handle! Säume nicht – um deinetwillen, mein Gott! Denn deine Stadt und dein Volk ist nach deinem Namen genannt.

Liebe Gemeinde,

die Kirchengemeinde betet für den Frieden in der Welt. Und die Mutter betet am Bett ihres krankes Kindes. Das sind zwei Gebetsanliegen, die den Jungen und Mädchen einer Konfirmandengruppe sofort einleuchten. Diese Fürbitten sind ihnen wichtig. Und es ist auch für uns leicht nachzuvollziehen: Es ist eine wichtige Aufgabe der Kirche, angesichts von Krieg und Terror die Hoffnung auf Frieden wachzuhalten. Wir bitten Gott um Frieden, weil Versuche zur Verständigung viel Unterstützung brauchen. Und die Sorge der Mutter am Bett ihres kranken Kindes? Sie erinnert alle vielleicht daran, als sie selbst einmal krank im Bett lagen und Mutter oder Vater sich zu ihnen setzte. Auf der anderen Seite macht sich jemand um sein Kind Sorgen, fühlt sich hilflos und braucht Geduld, bis eine Besserung eintritt. Bei einer schweren Erkrankung wird die Hoffnung so wichtig, dass Gott diese Krise zum Guten führen möge. Und das Vertrauen, dass er vor den akuten Gefahren behütet und beschützt. Andere Gebetsanliegen sind den Jugendlichen eher fremd: Sie würden Gott nicht um Hilfe bitten, wenn sie den ersten Schritt nach einem Streit auf den anderen zu tun möchten. Aber es überzeugt sie, wenn andere Menschen Gott um seinen Schutz und seinen Segen bitten. Dafür haben wir uns im Laufe unseres Lebens öffnen können, dass wir Gott um seine Unterstützung bei einem neuen Lebensabschnitt, bei neuen Aufgaben, bei Wagnissen bitten. Auch Dankbarkeit formulieren wir im Rückblick für das, was uns geschenkt worden ist – an Begleitung, an Bewahrung und an Segen. Aber Einsicht in Schuld und die Bitte um Vergebung ist noch ein neues Thema für ein Gebet.

Daniel betet zu Gott. Dieses Gebet sagt er nicht, als er sich im brennenden Feuerofen befand und nicht, als er mit seinen Freunden in der Löwengrube aushielt. Wir verbinden gerade diese beiden biblischen Geschichten mit ihm. Daniel hielt sich auch in der Fremde an den Gott Israels und lebte nach der Tora. Auch als Fremder wurde er für die babylonische Herrscher ein kluger Ratgeber. Er konnte seinen Glauben an Gott und seine Tätigkeit für den babylonischen Herrscher zunächst miteinander verbinden. Doch sein Erfolg und seine religiösen Freiheiten weckte Neid. Er wurde angefeindet und geriet in lebensgefährliche Situationen. Durch Gottes Schutz überlebte er den Feuerofen und auch die Löwengrube. Daniels Gebet, das zu unserem Predigttext gehört, ist kein Hilfeschrei aus Lebensgefahr und kein Dankgebet nach der Rettung. Es geht nicht um Daniel und sein Verhältnis zu Gott. Er spricht sein Gebet im Namen des Volkes. Er spricht von der Schuld in der Vergangenheit, von den Trümmern des Tempels und der Strafe durch das Exil. Er bittet Gott um erneute Zuwendung. Daniel wird zum Sprecher der Israeliten, die auf die Einlösung von Gottes Versprechen warten, dass die Rückkehr in die Heimat nach 70 Jahren beginnen möge und dass der zerstörte Tempel wieder aufgebaut werden könnte. Daniel betet: (18b) Denn wir liegen vor dir mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.

Daniel spürt die Krise seines Volkes und nimmt daran Anteil. Er ist verstrickt in die Verfehlungen, die die Generationen vor ihm begangen haben. Er distanziert sich nicht davon, sondern benennt das, was falsch gelaufen ist. Schuld ist sicher kein verlockendes Thema für ein Gebet. Weder für den einzelnen noch für ein Volk. Der einzelne überspielt seine Schuld gern oder schreibt sie anderen zu. Schuldeingeständnisse einer Gruppe erscheinen oft zu pauschal und nehmen den kleinen Einsatz und den Mut der einzelnen nicht wahr. Und doch gibt es diese Einsicht, dass alle eines Volkes die Konsequenzen mittragen müssen. Dass ein Volk oder eine Volksgruppe durch das belastet ist, was die frühere Generation an Unrecht begangen hat. Mitgehangen - Mitgefangen, sagt ein Sprichwort. Daniel scheut sich nicht trotz seines eigenen Gottvertrauens. Er weiß, dass sein Volk Gott gegenüber nicht auf besondere Leistungen pochen kann, sie waren ja gescheitert. Er wendet sich an Gott, weil er auf die Barmherzigkeit Gottes vertraut. Die allein zählt.

Durch das Beten des Vaterunser bitten wir um Vergebung der Schuld. Es ist für Jesus ein zentrales Gebetsanliegen. Und es nimmt zugleich die Mitmenschen in Blick. Schuld zu erkennen, Vergebung zu bitten und sie anderen zu gewähren, erleichtert das Zusammenleben der Menschen. Dabei wissen wir auch, wie schwierig es ist, die eigene Schuld einzusehen und wie schwer es sein kann, anderen zu vergeben, wenn man selbst verletzt ist. Daniels Gebet ermutigt zu der Haltung, Schuld einzugestehen, sie noch einmal zu benennen, auch wenn die Ereignisse schon lange zurückliegen. Dabei mag ihm helfen, dass er auf Gottes Barmherzigkeit hofft. Und die Vergebung? Sie hilft uns im Zusammenleben, weil es uns selbst befreit, wenn wir anderen vergeben.

Daniel bleibt nicht beim Schuldbekenntnis, er bittet Gott, auf sein Gebet zu hören, sein Angesicht wieder leuchten zu lassen über den Trümmern. Die Stadt und das Heiligtum möge ER wieder in seinem Blick nehmen. Daniel kennt, wie die anderen Israeliten die Verheißung der Propheten, dass das Exil 70 Jahre dauern soll, dass es eine Rückkehr geben wird. Er wartet darauf. Er hofft darauf. Doch bis jetzt ist nichts geschehen. Wie lange sollen sie noch warten?

18Neige deine Ohren, mein Gott, und höre, tu deine Augen auf und sieh an unsere Trümmer und die Stadt, die nach deinem Namen genannt ist. 19Ach, Herr, höre! Ach, Herr, sei gnädig! Ach, Herr, merk auf und handle! Säume nicht – um deinetwillen, mein Gott! Denn deine Stadt und dein Volk ist nach deinem Namen genannt.

Wird Gott halten, was er einst versprochen hat. Wie lässt es sich mit dem Warten leben? Sind es nur Verzögerungen? Sind es vergebliche Hoffnungen? Wann greift Gott ein? Wie handelt er? Daniel wird zum Sprachrohr seines Volkes, er formuliert die drängenden Bitten aller. Er erinnert Gott im Gebet nur an das, was er versprochen hat, an sein Versprechen und an seine Barmherzigkeit. Wann nehmen wir uns in Gebeten so zurück? Eher selten. Wir bringen unsere Ängste und Wünsche vor Gott. Wir beten um Unterstützung in unsicherer Zeit, um Hilfe in einer Krise, um Klärung in der Orientierungslosigkeit, um eine Entwicklung zum Guten. Beten macht es leichter. Aber wir kennen auch das vergebliche Warten. Wir erleben Unsicherheiten. Wir hören innere Fragen, die wir nicht beantworten können. Wir können versuchen, uns von Gott zu distanzieren, Abstand zu suchen, auf die eigene Leistung zu sehen. Wie lange? Oder wir versuchen, diese Spannungen aushalten und Gott an seine Versprechen zu erinnern. Und darauf zu hoffen, dass er es doch noch gut machen wird, über vielerlei Umwege, sogar über das Kreuz von Golgatha.

In der Coronakrise haben wir schon viele Gebete an Gott gerichtet mit der Bitte um Genesung bei der Erkrankung, um Stärke für die Begleitung der Kranken, um den Frieden für die Gestorbenen, um Geduld, Einsamkeit zu ertragen und Menschen nur aus der Ferne zu sehen. Wir haben dafür gebetet, dass Impfstoffe entwickelt und großzügig an Menschen überall auf der Welt verteilt werden können. Die Coronakrise lässt uns viele Bitten aussprechen. Doch wie geht Gott darauf ein? Können wir auf ihn trauen? Manche konkreten Bitten sind erfüllt: das Impfen schützt uns, andere Bitten sind nicht erfüllt. Daniel macht uns Mut, unsere Bitten mit großem Nachdruck zu sagen. Nicht, weil wir einen Anspruch erworben hätten, sondern weil Gott es sich so vorgenommen hat.

Daniels Gebet erinnert mich an die Bitte des Unser Vater: Dein Reich komme, dein Wille geschehe. Gott selbst möge aktiv werden, er möge uns entgegenkommen, er möge uns Zeichen geben, die uns ermutigen. Dann können wir unsere Schwäche, unsere Schuld, unseren Egoismus mit Gutem überwinden und letztlich dem Frieden dienen. Amen.