Liebe Gemeinde,

in der Predigt heute geht es um die 10 Gebote. Diese Gebote sind uns sehr vertraut. Die meisten von uns haben sie irgendwann auswendig gelernt. Und auch außerhalb von Kirche und Religion haben sie einen hohen Stellenwert. Thomas Mann z. B. hat die 10 Gebote als »Grundgesetz des Menschenanstandes« bezeichnet. Diese Wertschätzung erfahren die 10 Gebote wohl hauptsächlich wegen der 2. Tafel. Dort geht es in den Geboten 5 bis 10 um zwischenmenschliche Regelungen: Vater und Mutter ehren, nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen, nicht lügen, nicht Haus, Hab und Gut anderer begehren.

In dieser Zusammenfassung sind die Gebote leicht auswendig zu lernen und zu verstehen: Es geht um den Schutz vor Schaden und vor Vernachlässigung. Doch beim näheren Hinschauen sind diese zwischenmenschlichen Gebote gar nicht so klar und eindeutig.

II.

Mit den Konfirmanden und Konfirmandinnen in Stapel-moor habe ich die Gebote gerade in den letzten Wochen intensiv behandelt. Und wir stellten fest, dass z.B. das Elterngebot gar nicht für pubertierende Jugendliche gedacht sein kann, sondern eher für erwachsene Kinder, die sich um die alt und gebrechlich werdenden Eltern kümmern sollen. Und zum 9. Gebot stellten wir fest, dass es hier hauptsächlich um Falsch-aussagen in einem Rechtsstreit geht und weniger um die vielen kleinen und großen Lügen, mit denen wir uns durch den Tag retten: etwa im Restaurant bei der Antwort auf die Frage »Hat es Ihnen geschmeckt«?

Auch zum 6. Gebot stellten die Konfirmand*innen die Frage, ob hier das Töten im Krieg mitgemeint sei. Und wenn ja, dann dürfe es ja eigentlich gar keine Kriege und Kriegsvorbereitung geben.

Heikel wurde es beim 7. Gebot »Du sollst nicht ehebrechen!« Hier hatten einige Konfirmandinnen klar vor Augen, was die Trennung ihrer Eltern für sie persönlich bedeutete. Eine Konfirmandin hätte das Gebot für sich wohl lieber umformuliert: »Du sollst die Kinder aus Deiner Ehe nicht im Stich lassen!« oder »Zieh die Kinder nicht in den Trennungsstreit hinein!«

Dass man aufgrund des 8. Gebotes nicht stehlen darf, das war den Konfis unmittelbar einsichtig. Irritiert stellten sie aber zum 10. Gebot fest, dass hier allein schon der Wunsch, etwas haben zu wollen, zurückgewiesen werde. Das sei aber doch normal – so die Konfis –, die teuren Schuhe oder das neuste Handy des Klassenkameraden auch haben zu wollen. Etwas zu begehren, sei doch nicht schlimm. Erst, wenn man es dem anderen wegnehme, sei das schwierig. Ein anderer hingegen meinte, mit dem Habenwollen fange eben alles an. Und im schlimmsten Falle würde daraus ein Diebstahl oder Raubmord.

III.

Liebe Gemeinde,

Sie sehen, die Gebote der zweiten Tafel sind eingängig formuliert. Sie lassen sich leicht auswendig lernen. Und man kann zu einzelnen Geboten mit jungen Menschen gut ins Gespräch kommen. Natürlich gibt es unterschiedliche Auffassungen dazu, welches Gebot das Wichtigste ist. Und manch einer wird bei den 10 Geboten auch den ein oder anderen Punkt vermissen.

Ich selbst sage gerne – halb ernst, halb scherzhaft – , dass das Gebot vergessen wurde: »Du sollst nicht in Versuchung führen!« Ich sage das häufig, wenn Wertsachen ohne Aufsicht liegen gelassen werden, und ich rate dann, das zu ändern.

Andererseits bewundere ich auch die Menschen in Stapelmoor, die in der Regel ihre Fahrräder nicht abschließen. Selbst teure E-Bikes habe ich schon vor der Kirche oder dem Gemeindehaus ungesichert abgestellt gesehen. Offenbar ist hier das Vertrauen auf das 10. Gebot (»Du sollst nicht Hab und Gut anderer begehren!«) so groß, dass Fahrräder in Stapelmoor in der Regel nicht gesichert werden müssen. In einer Landeshauptstadt wie Hannover sieht das gewiss ganz anders aus. Da ist ein solches Zusatzgebot sicher hilfreich: »Du sollst nicht in Versuchung führen!«

IV.

Liebe Gemeinde,

es gibt zahlreiche Versuche, zusätzliche Gebote zu formulieren. Und nicht selten werden sogar völlig neue 10 Gebote aufgestellt. Das ist verständlich, denn wir haben heute Herausforderungen, die so noch nicht gesehen wurden, als Mose die Gebotstafeln erstmals dem Volk Israel präsentierte. Ich meine z.B. das notwendige Gebot, Menschen nicht zu diskriminieren aufgrund von Geschlecht, sexueller Orientierung, ethnischer Zugehörigkeit oder Hautfarbe. Hier fehlt m.E. ein deutlicherer Hinweis in unseren 10 Geboten.

ere haben sich überlegt, dass es besonders für das Leben im digitalen Zeitalter 10 Gebote braucht. Studierende der Medien-Hochschule Stuttgart haben deshalb unter Leitung ihrer Professorin 10 Gebote der digitalen Ethik aufgestellt. Da heißt es z.B.

Erzähle und zeige möglichst wenig von dir.

Akzeptiere nicht, dass du beobachtet wirst und deine Daten gesammelt werden.

Glaube nicht alles, was du online siehst, und informiere dich aus verschiedenen Quellen.

Lasse nicht zu, dass jemand verletzt und gemobbt wird. (...)

Schütze dich und andere vor drastischen Inhalten.

Miss deinen Wert nicht an Likes und Posts. (…) Usw.

Auch das sind hilfreiche Überlegungen, die ich den Konfirmand*innen in Stapelmoor am Dienstag mitgeben werde.

V.

Liebe Gemeinde,

bei all den Versuchen, die 10 Gebote neu zu formulieren, fällt auf, dass Gott in ihnen keine Rolle mehr spielt. Offenbar glauben die modernen Autor*innen, dass mit Gott keine allgemein-gültigen Gebote mehr aufgestellt werden können. Denn viele Menschen würden heute nicht mehr an Gott glauben bzw. an einen an-deren Gott als den der jüdisch-christlichen Überlieferung. An diesem Punkt ist etwas dran, und deshalb möchte ich im Weiteren der Predigt auf die 1. Tafel der 10 Gebote zu sprechen kommen: Wir kennen die vier Gebote der ersten Tafel in der Kurzfassung:

keine anderen Götter haben,

kein Bild von Gott machen,

Gottes Namen nicht missbrauchen und

den Sabbattag bzw. den Ruhetag heiligen.

In diesen Geboten geht es darum, demjenigen, der die Israeliten aus Ägypten befreit hat, die notwendige Ehre zu erweisen. Und das steht ganz fett als Überschrift über den 10 Geboten drü-ber. Und dieser Umstand ist mir aus meiner Konfirmandenzeit peinlich in Erinnerung geblieben. Denn in unserer Gemeinde in Ostfriesland war es damals üblich, zwei Wochen vor der Konfirmation die sog. ›Prüfung‹ durch den Kirchenrat vorzunehmen.

Wir Konfis saßen auf der Präsentierbank im Gottesdienst, und der Pastor stellte uns Fragen:

zur Bibel,

zum Glaubensbekenntnis,

zum Heidelberger Katechismus,

zum Unservater und

zu den 10 Geboten.

Jeder wusste vorher ungefähr, in welchem Bereich er oder sie drankommen würde; schließlich wollte sich der Pastor ja nicht bla-mieren. Als die Frage nach dem 1. Gebot kam, meldete ich mich und gab zur Antwort: »Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.«

Der Pastor guckte ein wenig enttäuscht und sagte: »Das ist aber nur das halbe Gebot.« Bevor ich verstand, was er meinte, hatte er schon jemanden neben mir aufgerufen. Und der ergänzte: »Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.«

Ich habe erst sehr viel später begriffen, dass es hier nicht um eine Frage des genauen Auswendiglernens ging, sondern um gleich vier theologische Grundsatzentscheidungen:

Zum einen: Die 10 Gebote sind nicht für irgendjemanden aufgeschrieben, sondern für das Volk Israel und seine Nachkommen. Zum anderen: Die 10 Gebote sind Teil eines Bundes, den Gott mit diesem Volk eingegangen ist. Einige reformierte Theologen sagen sogar, dass Gott sich hier auf Gedeih und Verderb an Israel bindet. Wie schwierig das manchmal gewesen ist, zeigt die Geschichte vom Goldenen Kalb: Mose hatte die beiden Gebotstafeln noch gar nicht vorgestellt, da hatten die Israeliten mit dem Götzenbild des Goldenen Kalbes schon gegen das erste Gebot verstoßen. Mose war wütend und zerstörte daraufhin das erste Exemplar der 10 Gebote und bat Gott um Vergebung. Danach bekam er ein zweites Exemplar der Tafeln ausgehändigt. Aber Gott war auf Dauer verärgert, und das Volk bekam das in der Wüste deutlich zu spüren.

Und drittens geht es hier nicht um irgendeinen Gott aus der Götterwelt Ägyptens, sondern um den Gott, der Mose am Dornbusch erschienen ist und der ihm dort seinen Namen offenbart hat. Die-ser Gott hat das Elend seines Volkes gesehen und verheißt ihm den Auszug in ein Land der Freiheit.

Und viertens: Die 10 Gebote sind so etwas wie ein 10-Punkte-Plan für das Leben in dem Land der neugewonnenen Freiheit. In Ägypten lebten die Israeliten nämlich in einem autoritären Regime. Sie waren Fremde im Land, wurden ausgebeutet und hatten praktisch keine Rechte. Deshalb brauchten sie Hilfe, wie man das Zusammenleben in dem Land der neuen Freiheit ermöglichte.

Die 10 Gebote sind also kein strikt einzuhaltender Verbotskatalog, sondern sie zeigen die Möglichkeiten eines neuen Lebens in der Freiheit auf. Sie sind Wegweiser für ein gelingendes Leben in Freiheit.

Vor diesem Hintergrund erhalten die 10 Gebote ein besonderes Gewicht. Mit den Geboten sagt Gott seinem Volk:

- Weil ihr in Ägypten jederzeit bestohlen und erschlagen wer-den konntet, soll es in dem verheißenen Land nicht so sein (→ 6., 8., 10. Gebot).

Weil ihr in Ägypten für eure Eltern nicht sorgen konntet, soll es im verheißenen Land anders sein (→ 5. Gebot).

Weil ihr in Ägypten vor Gerict unter Falschaussagen gelitten habt, soll es im verheißenen Land anders zugehen (→ 9. Gebot).

Weil eure Ehen in Ägypten Übergriffen ausgesetzt waren und

zerrüttet wurden, soll das im verheißenen Land nicht mehr so sein (→ 7. Gebot).

- Weil ihr in Ägypten auf Schritt und Schritt Gottesbildern begegnet seid, die der Rechtfertigung von Macht dienten, soll es im verheißenen Land nicht so sein (→ 2., 3. Gebot).

Und weil ihr in Ägypten 7 Tage in der Woche schwer arbeiten musstet, soll es im verheißenen Land anders sein. Nicht nur ihr, sondern auch eure Kinder, Sklaven und Tiere sowie der Fremde in eurem Land sollen Anrecht auf einen Ruhetag haben (→ 4. Gebot).

VI.

Liebe Gemeinde,

die 10 Gebote sind also ein ›Gegenprogramm‹ zum Leben als Sklave / als Sklavin in Ägypten. Die verschiedenen Gottheiten dort rechtfertigten Rangunterschiede und legitimierten die Herrschaft der Pharaonen.

Hinter dem alttestamentlichen Programm eines neuen Lebens in Freiheit steht nun aber ein Gott, der mit seinen Namen für die Wahrhaftigkeit der Neuen Welt einsteht.

Und das war der Grund, weshalb die Gebotstafeln in die Bundes-lage gelegt wurden. Sie begleiteten die Israeliten als Heiligtum bei den Wanderungen durch die Wüste und gelangten später in den Tempel zu Jerusalem. Die beiden Gebotstafeln in der Bundes-lage waren ein Zeichen der Gegenwart Gottes bei seinem Volk.

Wer die 10 Gebote beachtete, konnte sicher sein, dass keine ägyptischen Verhältnisse wieder eintraten. Oder um es anders zu sagen: Der Nationalsozialismus hat nicht zufällig gegen jedes einzelne der 10 Gebote verstoßen. [Ich glaube, Kardinal Graf von Galen hat das so gesagt.]

Gott steht mit seinem Namen dafür ein, dass die Beachtung der 10 Gebote zu einem Leben in Freiheit führt. Den Gottesbezug aus diesen Geboten herauszunehmen, bedeutet darum, ihnen die Verheißung zu nehmen. Gleichzeitig darf der Garant der Neuen Welt nicht vereinnahmt werden – nicht durch Gottesbilder, nicht durch andere gottähnliche Autoritäten und nicht durch Missbrauch seines Namens. Und damit das in Erinnerung bleibt, ist der Sabattag, der Ruhetag, so wichtig. Einmal in der Woche Gott die Ehre geben.

VII.

Liebe Gemeinde,

ich habe meine Konfirmand*innen auch gefragt, was ihrer Meinung nach das wichtigste der 10 Gebote ist.

»Den Namen Gottes nicht missbrauchen« und »Du sollst nicht töten«, bekam ich zur Antwort. Ich habe sie dann nachzählen lassen, welches wohl das längste Gebot ist. Denn der Verfasser könnte ja das wichtigste Gebot durch die Länge markiert haben. Die Konfis waren überrascht, denn das 4. Gebot hatten sie gar auf dem Schirm:

»Du gedenkst des Sabbattages. Er soll für dich ein heiliger Tag sein! Sechs Tage in der Woche arbeitest Du und tust alle deine Werke. Aber der siebte Tag ist ein Ruhetag. Er gehört dem Herrn, deinem Gott. An diesem Tag tust du keine Arbeit: weder du selbst noch dein Sohn oder deine Tochter, dein Sklave oder deine Sklavin, auch nicht dein Vieh oder der Fremde in deiner Stadt. Denn in sechs Tagen hat der Herr den Himmel, die Erde und das Meer gemacht – mit allem, was dort lebt. Aber am siebten Tag ruhte er. Deswegen hat der Herr den Ruhetag gesegnet und ihn zu einem heiligen Tag gemacht.«

In vielen Katechismen wird das 4. Gebot verkürzt und sinnentstellt, wenn es dort schlicht heißt »Du sollst den Feiertag heiligen!« Was soll das bedeuten, »den Feiertag heiligen«?

Brückentage optimal nutzen?

Am Tag der Einheit spazieren gehen?

Sonntags ausschlafen?

Nein, das ist eher nicht gemeint. Wenn der Sonntag benötigt wird, um nach einer anstrengenden Arbeitswoche auszuschlafen, dann stimmt etwas mit der Arbeitswoche nicht. Und wenn die volle Arbeitswoche in den Sonntag hineinragt, dann erst recht nicht.

Das 4. Gebot ist m.E. das Herz der 10 Gebote. Es wird von Gottes Schöpfung her begründet. Der Sabbattag ist das Ziel der Schöpfung Gottes. Im Studium habe ich deshalb gelernt, dass nicht der Mensch die Krone der Schöpfung ist, sondern der Ruhetag des Herrn.

Der Sabbattag ist nicht nur die Krone der Schöpfung, sondern auch das universale Ziel der Schöpfung. Er ist das Kraftfeld und die Verheißung, wodurch ein Leben nach den 10 Geboten möglich wird.

Und ganz nebenbei werden in dem Sabbatgebot auch noch Ansätze einer Tierethik und eines neuen Umgangs mit den Fremden in unserem Land angedeutet.

Liebe Gemeinde,

und damit komme ich zum Schluss. Sie merken: 10 Gebote ohne Gottesbezug – das geht, gewiss. Aber wahrscheinlich fehlt etwas Entscheidendes: Die Verheißung und der Garant dafür, dass die 10 Gebote nicht nur für die Israeliten, sondern auch für uns ein Leben in der neuen Freiheit ermöglichen. Ohne Bezug zu Gott sind die Gebote eine beliebige Verbotsliste. Mit der ersten Gebotstafel zusammen sind sie eine Verheißung: »auf dass Du lange lebest in dem Lande, dass Dir der Herr, Dein Gott, geben wird.«

Wenn Jesus von dem Reich Gottes spricht, von dem neuen Leben im Reich Gottes, dann knüpft er hier an die alttestamentliche Überlieferung an: an den Bund Gottes mit den Menschen, an die darin liegende Verheißung, an den Ruhetag, der in den ewige Ruhetag Gottes mündet. In der Bergpredigt hat er dann erklärt, welche Kraft für ihn von dieser Verheißung ausgeht, sodass auch Feindesliebe, Miteinanderteilen und Vergebung möglich werden.

»Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus.« (Phil 4,7)