Predigt von Pastor Christoph Rehbein
über Exodus (2.Mose) 19, Verse 1-8
am 8. August 2021

Liebe Gemeinde,

Vers für Vers möchte ich mit Ihnen auf den eben gehörten Bibeltext hören. (Exodus 19,1): Am dritten Neumondstag nach dem Auszug der Israeliten aus dem Land Ägypten, an diesem Tag, kamen sie in die Wüste Sinai.

Auszug, lateinisch Exodus, nach diesem einen Wort ist das ganze 2. Buch Mose benannt. Das Rote Meer haben sie hinter sich gelassen, die aus der Knechtschaft befreiten Menschen. Mirjam hat auf die Pauke gehauen, Moses Schwester.

Ägyptische Rosse und Reiter warf ER ins Meer (Ex. 15,21), der eine Gott, dessen Stimme wir hören. Der diesem Pharao seine Grenzen aufzeigte. Den Gernegroß klein gehalten hat trotz seiner militärisch hochkarätigen Streitmacht. So empfindet die kleine Schar der Hebräerinnen und Hebräer. Die nun zu einem Volk gewachsen ist. An einen seiner Ahnherren anknüpfend: Haus Jakob – das war der erste Name des Enkels von Sara und Abraham. Und dann Isra-El: Der mit Gott gerungen hat. Ja, mit Gott gerungen haben sie alle. Viele sehnen sich unterwegs zurück zu Ägyptens Fleischtöpfen. Nun ist die Ernährung weitgehend vegetarisch. Manna heißt das Lebensmittel Nummer eins. Immerhin gibt es auch einmal Wachteln, die vom Himmel fallen. Langsam wird Israel vorbereitet auf das, was jetzt kommt. Mitten im Buch Exodus wird ein neues Kapitel aufgeschlagen:

(2) Und sie brachen auf von Refidim (das bedeutet „Rastplätze“, man weiß nicht, wo genau dieser Ort war) und kamen in die Wüste Sinai, und sie lagerten in der Wüste. Und dort lagerte Israel dem Berg gegenüber.

Wüste – zweimal wird das entscheidende Stichwort genannt. Unser Sohn Paul war als 17jähriger ein Jahr zum Schüleraustausch in Argentinien. In der Zeit dort machte er eine Rundreise durch das große Land zwischen Meer und Gebirge. Am Ende stand - ganz einsam im Nordwesten - ein Aufenthalt in der Wüste. Er war allein und es war ganz still. Da habe er deutlicher als je zuvor in der Kirche Gottes Stimme gehört: Du bist nicht allein. Ich bin da. Ich bin bei dir, wohin du auch gehst.

Genau dieses Vertrauen wird jetzt in Israel auch wachsen. Dem Berg gegenüber lagert sich das Volk. Da ist ER jetzt, der am Tag in einer Wolke den Weg wies. Und des Nachts in einer Feuersäule voranging. Da, auf dem Berg, wird er wiederum nicht zu sehen, doch zu hören sein:

(3) Mose aber stieg auf zu Gott. Und der HERR rief ihm vom Berg her zu: So sollst du zum Haus Jakob sprechen und den Israeliten verkünden.

Mose mal wieder! Obwohl wundersam errettet als Baby im Nil von Pharaos Tochter – keineswegs zum Helden geboren! In seinem großen Gerechtigkeitssinn hatte er als junger Mann einen Ägypter, einen Slavenaufseher, erschlagen. Sein Argument war weniger das Wort als die Tat. Sein Bruder Aaron konnte besser reden. Mose flieht in die Wüste nach Midian (Exodus 3). Hütet die Schafe seines Schwiegervaters. Und entdeckt Neuland in seiner Aufgabe. Verlässt die gewohnten Wege und rastet an einem Dornbusch. Hört plötzlich Gottes Stimme dort: Du sollst ein Navi werden für das Volk. Dir traue ich das zu. Obwohl oder vielleicht gerade weil du ein Mann mit vielen Ecken und Kanten bist! Immerhin bist du auch ein guter Zuhörer. Und stellst die richtige Frage: Wenn ich nun den Exodus organisiere: In wessen Auftrag? Wie lautet der Name dieses Gottes, der nicht zu sehen, vielmehr nur zu hören ist? Wir kennen Gottes Antwort aus dem Dornbusch heraus: Ich werde sein, der ich sein werde (Exodus 3,14): Frei. Unverfügbar. Souverän. Und liebevoll zugewandt denen, die es schwer haben im Leben. Weiter im Text - was soll nun Mose den Israeliten verkünden?

(4) Ihr habt selbst gesehen, was ich Ägypten getan und wie ich euch auf Adlerflügeln getragen und hierher zu mir gebracht habe.

Ihr selbst“ ist hier hervorzuheben! Es ist noch keine 100 Jahre her, da mussten Juden bei uns im Einwohnermeldeamt unter Religion ankreuzen: „mosaischen“ Glaubens. Das hat fast allen widerstrebt. Zu Recht! Genau wie wie Reformierten ungern nach einem einzelnen starken Menschen „Calvinisten“ genannt werden. Der jüdische Glaube ist ein Gottvertrauen der Vielen, der Menge, des ganzen Volkes. Alle haben die großen Taten Gottes mitbekommen. Klar, das mit den Adlerflügeln ist ein schönes Bild. Allein - sie mussten schon laufen! Weit laufen, von Ägypten ins Gelobte Land. Zwischendurch auch humpeln, am Ende der Kraft und der Zuversicht. Doch nun werden sie gestärkt, an jenem Berg. Dem Gott gegenüber lagernd, „der Lasten auf uns legt, doch uns mit unseren Lasten trägt und uns mit Huld begegnet“. (EG Psalm 68, Strophe 6)

Der folgende Vers ist in der klassischen Lutherbibel dick gedruckt:

(5) Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Genau so haben wir das immer verstanden: Israel versteht sich als privilegiert. Also auserwählt vor allen anderen Völkern, darauf darum auch gern arrogant und überheblich. Den feinen Unterschied markiert unsere Zürcher Übersetzung. Ich wiederhole noch einmal, was wir gerade eben in der Lesung gehört haben: Wenn ihr nun auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet von allen Völkern ihr mein Eigentum sein, denn mein ist die ganze Erde... Das klingt nüchterner, oder?

In unserem „Arbeitskreis Juden und Christen“ lasen wir eine sehr spannende Auslegung von Jehoshua Ahrens zu unserem Text. Er ist Rabbiner in der jüdischen Gemeinde Frankfurt. Ihm fällt auf, dass in einem Atemzug Gottes von zweierlei die Rede ist: Zum einen von der Besonderheit Israels. Dass hebräische Wort für Eigentum, Segolah, möchte er lieber mit „Kleinod“ übersetzen, so etwas wie „Gottes erste Liebe“ (Friedrich Heer). Allein - es geht um eine Liebe, die Israel nicht für sich behält. Die das Volk vielmehr weitergeben und ausstrahlen soll. Darum der Nachsatz: Denn mein ist die ganze Erde. Rabbiner Ahrens kann Israels Partikularität, also seine Einzigartigkeit, nur zusammen mit Gottes Universalität denken. Israel ist Gottes „Nes Ammim“, hebräisch Gottes „Zeichen für die Völker“. So sagt es später der Prophet Jesaja (11,10).  Spuren davon finden sich zum Glück auch heute. Israel – wir denken unweigerlich sofort in den Nahen Osten hinein. An Konflikt, an Terror und an Bomben. Auch wenn wir wissen: Nur die Hälfte der 14 Millionen Jüdinnen und Juden, die es insgesamt auf der Welt gibt, lebt dort. Und nicht jeder der gut 100.000 bei uns möchte sofort mit mit dem Staat Israel in Verbindung gebracht werden. Oder gar seine Politik verteidigen müssen. Mir fällt auf: Was dort für die Medien weniger wichtig ist, spielt sich oft im Verborgenen ab. Zum Beispiel in Bet Jala bei Betlehem. Im von Israel besetzten Gebiet, das einmal der Staat Palästina werden soll. Da wird im „Life Gate Center“ Menschen mit Behinderungen geholfen. Ein wachsendes Problem ist die Krankheit Autismus. Als wir zuletzt dort waren, wurde uns folgendes berichtet: Die so hoch entwickelte medizinisch-psychologische Autismus-Abteilung der Hadassah-Klinik Jerusalem hilft wirksam. Es entsteht eine jüdisch-palästinensische Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg. Wenn es die politische Lage erlaubt, sind gemeinsame Freizeiten am See Genezareth der beispielhafte Brückenschlag. Die Menschen mit Handicap haben ein riesiges Plus: Sie sind oft Menschen ohne Vorurteile.

(6) Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern sein und ein heiliges Volk. Das sind die Worte, die du zu den Israeliten sagen sollst.

Ein Bibelvers, der Martin Luther inspiriert hat. Und den er auf die Freiheit der Christenmenschen beziehen konnte. Jeder gläubige Mensch aus dem -  durch Christus erweiterten - Gottesvolk hat unmittelbaren Bezug zum Allerhöchsten. Es gibt ein „allgemeines Priestertum der Gläubigen“. Im Glaubensbekenntnis heißt das „Gemeinschaft der Heiligen“. Hältst du das für möglich? Auch du gehörst dazu, in all deiner Unvollkommenheit!

Hier war der Predigttext in früheren Zeiten zuende. Unsere neue EKD- Perikopenordnung serviert noch einen wichtigen Nachschlag. Das Volk soll nun in die vom Schöpfer am Sinai dargebotene Hand auch einschlagen. Wir hören noch einmal die neue dazugekommenen Verse

(7 und 8): Und Mose kam und rief die Ältesten des Volkes und legte Ihnen alle diese Worte vor, die der Herr ihm aufgetragen hatte. Da antwortete das ganze Volk einmütig und sprach: Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun. Und Mose überbracht dem HERRN die Worte des Volkes.

Zu schön um wahr zu sein? Idealisiert? Nun denn, Gottes Wort wartet auf menschliche Antwort! Mir fällt dazu ein mitreißender Vortrag ein, den ich mal beim Kirchentag hörte. Von Rabbiner Tovia Ben Chorin, dem Sohn des bekannteren Schalom Ben Chorin. Der sprach über sein Leiden am oft unheiligen Staat Israel, dem er doch selbst lange als Soldat gedient hat. Die Besatzung des Westjordanlandes muss aus seiner Sicht ein Ende finden, da sie die Einmütigkeit in Israel korrumpiert. Die vor 73 Jahren in Israels Unabhängigkeitserklärung formuliert wurde. Vor dem Hintergrund des besonderen Weges, den der eine Gott in den Augen gläubiger Juden mit seinem Volk gegangen ist. Da heißt es: „Der Staat Israel…wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen.“ Tovia Ben Chorin ist soweit ich weiß noch heute als Rabbiner in St. Gallen und am Bodensee tätig. Mittlerweile 85 Jahre alt. Unermüdlich für die noch offene Erfüllung des 1948 formulierten Anspruches sprechend und betend.

Und was ist mit uns Christenmenschen? Sind wir uns einig? Von einer Einmütigkeit der Konfessionen sind wir noch immer weit entfernt. Ich werde oft gefragt nach dem Unterschied zwischen reformiert und lutherisch. Und so temperamentvoll ich den auch zu erklären versuche: Fast immer hört die so Fragende schnell wieder weg. Die religiös interessierten Mitmenschen von heute wollen am Ende nur eines wissen: Was glaubt ein Christ? Worauf vertraust du?

Ich möchte schließen mit der entscheidenden Frage bei unserer Konfirmation vor vier Wochen:

„Nun frage ich euch: Wollt ihr zur Gemeinde Gottes gehören und im christlichen Glauben bleiben und wachsen, so antwortet: Ja, mit Gottes Hilfe.“ Liebe Gemeinde, vor uns allen liegt noch ein weiter Weg zur Einmütigkeit. Israel wie uns ist dabei zugesagt: Ihr könnt noch wachsen. Und so antworten wir, unsere Taufe bekräftigend: „Ja, mit Gottes Hilfe.“ Und Sein Frieden, der weiter reicht als alle menschliche Vernunft, der wird unsere Herzen und Sinne bewahren in Christus Jesus. Amen.