Predigt zum Israelsonntag 21.08.2022 von Bettina Rehbein zum Buch Judit (rev. Lutherbibel 2017)

Brich ihren Hochmut durch die Hand einer Frau! 11 Denn nicht in der Übermacht liegt deine Kraft, und deine Herrschaft ruht nicht auf den Starken, sondern du bist ein Gott der Erniedrigten, ein Helfer der Geringen, ein Beistand der Schwachen, ein Beschützer der Verachteten und ein Retter der Hoffnungslosen! 12 Ja, du Gott meines Vaters und Gott des Erbbesitzes Israels, du Herrscher des Himmels und der Erde, Schöpfer allen Wassers und König deiner ganzen Schöpfung, erhöre mein Flehen! 13 Gib, dass mein trügerisches Wort zur Wunde und Strieme werde für jene, die Unheil beschlossen haben gegen deinen Bund und deinen heiligen Tempel, gegen den Berg Zion und das Haus, das deine Söhne bewohnen. (Judit 9,10 ff)

Liebe Gemeinde!
Wow – mit welcher Vollmacht traut sich diese Frau zu sprechen! Wie kommt sie dazu, von Gott zu verlangen, ihr, einer einzelnen Frau, solche Kraft zu verleihen? Warum ist sie nicht verzagt, wie die meisten von uns? Wie oft hören wir uns sagen: Was kann ich als Einzelne schon tun?
Was kann ich als Einzelne tun, angesichts von Klimaerwärmung und tot erklärten Gletschern? Was kann ich als einzelner tun, angesichts zunehmender rechter Gewalt? Mein Herz dreht sich um, wenn wieder ein jüdischer Mensch in Berlin oder anderswo angegriffen wurde. Ich fühl mich selbst angegriffen, ich will aufstehen dagegen, aber: Ich allein, wir allein?
Auch Judit hätte so denken und reden können angesichts erlebter Gewalt und Bedrohung ihres Volkes. Das Buch Judit erzählt in Form einer Legende und berichtet doch eine realistische Situation erneuter existenzieller Bedrohung für die aus dem Exil zurückgekehrte jüdische Gemeinschaft. Und Sie haben bei der Lesung bemerkt, die Beschreibungen erinnern an die historische Weltsituation vor mehr als 80 Jahren, die Kriegstreiberei durch Nazi-Deutschland sowie an die Situation heute, Putins Angriff auf die Ukraine…
Das assyrische Herr ist einmarschiert, es geht um Machtzuwachs, um Unterwerfung. Der Tempel in Jerusalem soll entweiht und weiteres Gebiet erobert werden. Die Nachbarvölker haben bereits kapituliert, überall herrscht
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Gewalt, Zerstörung Todesangst. Es gibt immer mehr Kriegshandlungen und Opfer. Lange verweigert sich die jüdische Gemeinde, entscheidet dann aber, sich selbst und GOTT ein Ultimatum zu setzen: Hilft Adonai nicht innerhalb von fünf Tagen, werden sie sich dem fremden Herrscher unterwerfen.
An dieser Stelle tritt Judit auf den Plan. Sie kann und will nicht länger zuhören und zusehen. Schweigen war Silber, Reden ist jetzt Gold.
Und sie wird nicht nur reden, sondern auch handeln. Sie hat nachgedacht, hat einen Plan. Sie tritt auf, nicht als spontane Aktivistin. Sie weiß, sie braucht Rückhalt für Ihr Vorhaben, das Vertrauen der Ältesten, der Männer. Sie kann als Einzelne etwas wagen, aber sie braucht die Basis für ihr Vorhaben, sie benötigt eine Strategie und sie braucht vor allem GOTT. Ohne ihr Ringen mit ihm im Gebet kann sie nichts tun. All das weiß sie., Und sie weiß noch mehr. Es gibt inmitten von Hoffnungslosigkeit und Angst die Kraft der Erinnerung um das Wesen und den Willen Gottes. Und nun erinnert sie GOTT selbst daran, wer er ist: „Du bist ein Gott der Erniedrigten, der Beistand der Schwachen, diene Kraft und deine Herrschaft ruht nicht auf den Starken! Beim Lesen und Hören spüren wir förmlich, wie inmitten ihres eindringlichen Ringens mit Gott auch die Erinnerung an dessen Parteilichkeit und Barmherzigkeit auf sie selbst überspringt. Denn kurz nach diesem Gebet werden wir zu Zeug*innen eine eindrückliche Szene: Als sie nun aufgehört hatte, zu dem Gott Israels zu schreien, und als ihr Gebet beendet war, da stand sie vom Boden auf, rief ihre Magd herbei und ging hinunter in das Haus, wo sie sich am Sabbat und an den Festtagen aufzuhalten pflegte. Sie zog die Kleider ihrer Witwenschaft aus und legte den Sack ab, mit dem sie sich bekleidet hatte. Sie wusch ihren Leib mit Wasser und salbte sich mit betörendem Balsam, flocht ihre Haare und wand Bänder hinein und zog jene Festkleider an, die sie zu Lebzeiten ihres Mannes Manasse getragen hatte. Sie wählte Sandalen für ihre Füße aus und legte Fußketchen und Armreifen, Fingerringe und Ohrgehänge und all ihr Geschmeide an. So machte sie sich schön, um die Augen der Männer zu blenden. (Judit 10,1-5)
Liebe Geschwister! Versuchen wir mal, nicht sofort kritisch zu fragen, ob es sich denn mit feministischen, friedenspolitischen oder gendergerechten Überlegungen verträgt, diese Judit als Vorbild zu sehen, die mit den sogenannten Waffen einer Frau, dann aber doch auch mit physischer Gewaltanwendung einen Heerführer zur Strecke bringt, wie wir im Laufe des Buches erfahren. Sie geht nämlich nachts ins feindliche Heer, täuscht vor, Holofernes verführen zu wollen, macht ihn betrunken und enthauptet den vor
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lauter gier und sexueller Lust kopflosen Holofernes und rettet auf diese Weise ihr Volk vor dem drohenden Untergang.
Ihr könnt euch also vorstellen: Das Buch Judit sorgt für Aufregung in der jüdisch-christlichen und feministischen Auslegungsgeschichte, in Kunst und Literatur. Besonders bekannt ist das Bild von Gustav Klimt: Es zeigt eine schöne Frau mit entblößter Brust und dem von ihr abgeschlagenen Kopf des Holofernes. Wobei die entblößte Brust der Fantasie des Künstlers entspringt, im Text steht, dass sie sich eben nicht vor ihm ausgezogen hat!
So oder so, das Bild fasziniert und ruft zugleich kritische Fragen auf den Plan: Kann eine männermordende Attentäterin ein nachahmenswertes Emanzipationsmodell sein? Und das in unseren Zeiten? Oder: Ruft eine Judit, deren Vorname verrät, dass sie als fiktive Gestalt die glaubenstreue Jüdin schlechthin verkörpert, nicht altbekannte, sehr verbreitete israelfeindliche Affekte auf den Plan? Nach dem Motto: Siehst du, die machen es auch nicht besser, sie wenden Gewalt an? Reizt das auch Feministinnen zum Widerspruch? Widerspruch zu einer Frau, die ihre sexuellen Reize nutzt, um Männer liebestrunken—und auch sonst betrunken zu machen? Ein Frauenbild, dem sie selbst doch abgeschworen haben?
Nehmen wir jedoch zunächst einfach wahr, wie liebevoll dieser sich in Judith vollziehende Wandel beschrieben wird: Sie geht in den Festtags-Raum. Sie markiert damit einen festlichen Übergang von der Trauer, von der Resignation, von der Lähmung des Lebens, in dem etwas fehlte, in dem sie sich selbst fehlte, in zu der Judit die sich um sich selbst kümmert – und damit zugleich um die Menschen ihres Volkes. Hingebungsvoll wäscht sie ihren Körper reinigt sich von dem was sie in der Trauer festgehalten hat, flicht ihre Haare, salbt sich, fast königlich- wie für die Braut Sabbat. Sie legt die schmucklose Trauerkleidung ab und zieht Festkleider an. Ihr Mann ist nicht mehr, aber die Festkleider aus früheren Zeiten sind noch da, um in neuen Situationen getragen zu werden. Sie schmückt sich ausgiebig und wählt ihre Sandalen genau aus. Sie will losgehen, ins feindliche Lager. Das, was sie den Ältesten gepredigt hat, wir nun selbst ein Teil von ihr, nämlich die Aufforderung: Besiegt die Angst durch Gottvertrauen! Ihr könnt Gott kein Ultimatum stellen Gott ist souverän, er ist frei in seinem Handeln, in seiner Hilfe (Judit 8,11-17). Aber ihr könnt selbst zu Gottes Händen und Mund werden, ihr könnt eure Angst in Vertrauen verwandeln.
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Liebe Gemeinde, ich möchte keinem Mann den Kopf abschlagen. (Obwohl den Wunsch kenne ich, dass bestimmte Machthaber zur Strecke gebracht werden müssten!) Aber ich bewundere Judiths Mut. Zumal: Sie weiß, dass sie schuldig wird, Blut vergießt, sich und andere gefährdet. Aber sie handelt, um schlimmeres Blutvergießen zu verhindern und GOTT treu zu bleiben.
Denn in diesem Buch geht es nicht nur um Zivilcourage, sondern auch u tiefgreifende theologische Fragen. Es geht um Gottes Souveränität und zugleich um uns: Um die Frage, aus welchen Quellen sich Kraft und Mut speisen können und ob wir GOTT rechen in unserem lebensgefährlichen Leben. Es geht um die Frage, ob Menschen sich angesichts von Bedrohungen und Angst den politischen Mächten und Gewalten unterwerfen oder ob sie sich an den Gott Israels erinnern. Ob sie treu bleiben- sich und ihm. Es geht aber auch um Judiths Widerspruch gegen ein bestimmtes Gotttesverständnis: Dass es nämlich schlicht nicht möglich ist, Gott ein Ultimatum zu stellen und nach magischen Zeichen seines Eingreifens zu verlangen: „Versucht nicht, den Willen des HERRN, unseres Gottes zu erzwingen!“ (Rede der Judit, 8,16). Es geht darum, gegen die Angst den Aufstand zu wagen: mit Klugheit, Einsicht, Gottvertrauen, einer ungeheuer großen Portion Muth und eben notfalls mit einer List! Den Männern ihres Volkes wirft Judit vor, dass es ihnen an Fantasie fehlt für den Widerstand. Immer wieder betont sie: Haltet euch an GOTT, aber macht keine Erpressungsversuche. Gott bleibt frei!
Was kann ich als Einzelne tun? – so fragt die leider längst verstorbene Theologin und Gottespoetin Dorothee Sölle in einem ihrer Texte. Ich zitiere: „Immer wieder treffe ich traurige Menschen, die mir versichert, sie teilten meine Analyse von der Zerstörung der Gerechtikeit, aber dann gleich hinzufügen: „Aber, was kann ich als Einzelner schon tun!“ diesen Satz empfinde ich als gottloser als jede rationale, theoretische Leugnung Gottes sein könnte. Es ist atheistischer als alles, auch wenn er im frommen Gewand daherkommt. Er sagt nichts anderes als, die Mehrheit habe die Macht und man müsse mit den Wölfen heulen. Es ist also die entscheidende Frage, ob ich die Kraft Gottes glaube oder nicht, ob ich ihm und uns etwas zutraue. Denn wenn ich frage, „was kann ich als Einzelne denn tun?“, leugne ich Gottes Wirksamkeit und die Möglichkeit, dass Gerechtigkeit sich durchsetzt.“ Soweit Sölle.
Liebe Gemeinde, die überlieferte Judit kannte diesen hoffnungslosen Satz mit der Frage nach dem oder der Einzelnen vielleicht gar nicht. Deshalb ist sie
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aufgestanden gegen die Angst. Oder aber, sie hat sich gar nicht als Einzelne gesehen, sondern als Teil des Ganzen, der Gemeinschaft, als Teil ihres Volkes. Ich stelle mir vor, wie das ist, wenn wir selbst uns mehr so sehen. GOTT ist die Fülle, wir ein Teil. Oder als Christ*in: Wir sind Glieder am Körper des Messias, des Gesalbten, des Retters.
Ich wünsche uns etwas von dem Mut und der Vollmacht der Judit, die sagt: „Brich ihren Hochmut durch die Hand einer Frau!“. Ich schließe mit dem letzten Vers ihres Gebetes (Judit 9,14) Lass dein ganzes Volk und jeden Stamm erkennen, dass du der Gott aller Macht und Kraft bist und dass es keinen anderen gibt, der das Volk Israel beschirmt, als dich allein.
Amen