Liebe Gemeinde,
der Predigttext für den heutigen Sonntag steht in der Apostel­ge­schichte des Lukas, im 16. Kapitel. Ich lese in einer mod. Übers.:
9 Nachts hatte Paulus eine Vision: Ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: »Setze über nach Mazedonien und hilf uns!« 10 Danach bemühten wir uns sofort, nach Maze­donien zu kommen. Es war uns nämlich klar gewor­den, dass Gott uns herbeigerufen hatte, den Menschen dort das Evangelium zu verkündigen. 11 Als wir aus Troas ausgelaufen waren, fuhren wir geradewegs nach Samothrake, kamen am nächsten Tag nach Neapolis 12 und von dort nach Philippi. Das ist eine Stadt des ersten Bezirks von Mazedo­nien, eine römische Kolonie. In dieser Stadt verbrachten wir einige Tage.
13 Am Sabbat gingen wir hinaus vor das Tor an einen Fluss, wo wir eine Synagoge vermuteten. Wir setzten uns und redeten mit den Frauen, die sich dort versammelt hatten. 14 Auch eine Frau namens Lydia, die Israels Gott ehrte, eine Purpurwollenhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu. 14 Ihr öffnete der Herr das Herz, sodass sie in sich aufnahm, was Paulus sagte.
15 Sie ließ sich taufen zusammen mit ihrer ganzen Hausgemeinschaft, ihren Angehörigen und Dienstleuten. Darauf lud sie uns ein und sagte: »Wenn ihr davon überzeugt seid, dass ich treu zum Herrn stehe, dann kommt in mein Haus und wohnt dort!« Und sie drängte uns sehr, der Einladung zu folgen.

»Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.« Amen.

I.
Liebe Gemeinde,
der Predigttext heute handelt von der Ankunft des Paulus in Philippi bei seiner zweiten Missionsreise.
Eigentlich hatte Paulus gar nicht dorthin gewollt – nach Philippi. Aber mehrere Umstände kamen zusammen, die ihn schließlich dorthin führten. Ursprünglich war es seine Absicht, die Gemeinden zu besuchen, die er auf seiner ersten Reise mit seinem alten Weggefährten Barnabas gegründet hatte. Aber zwischen beiden kam es zum Streit. Barnabas zog nach Zypern. Paulus wählte sich mit Silas einen neuen Begleiter und wollte im Gebiet der heutigen Westtürkei missionieren.
Aber Gott durchkreuzt seinen Plan – wie schon öfters in seinem Leben. Genauer: Der Heilige Geist hindert ihn, diesen Weg einzuschlagen.
In der Hafenstadt Troas schließlich wird Paulus nachts in einer Vision nach Mazedonien gerufen. Nicht in Kleinasien soll er weiter missionieren, sondern in Europa.
Ohne zu zögern, machen sich Paulus und seine Gefährten auf den Weg. Sie sind sich sicher: Gott hat ihnen diese Vision geschickt. Und es war keine kleine, sondern eine große Vision. Mit der Missionierung Europas zu beginnen, das war ein großes Wagnis. Und zuvor war noch ein Seeweg zurückzulegen von Troas nach Mazedonien. Das sind etwa 130 Seemeilen oder 240 km immer an der gefährlichen Küste einlang. //
Aber schon am ersten Tag gelangt das Schiff bis zur Insel Samo­thrake. Und am zweiten Tag gelangen sie nach Neapolis, einer Stadt an der heutigen griechischen Küste. Von dort sind es nur noch wenige Kilometer landeinwärts bis Philippi. Innerhalb von 2 ½ Tagen haben sie also die weite und nicht ungefährliche Strecke hinter sich gebracht. Offenbar steht ihre Reise unter einem guten Stern, und eine gehörige Portion Rückenwind muss auch dabei gewesen sein. //
Doch in Philippi angekommen müssen sie erst einmal warten – »einige Tage« heißt es in unserem Predigttext. Einige Tage lang passiert überhaupt nichts. Aber dann am Sabbat finden sie vor dem Stadttor am Fluss eine Synagoge mit einer Gruppe von Frauen; sie feiern einen Gottesdienst. Als durchreisender Jude wird Paulus mit seinen Begleitern freundlich empfangen. Man tauscht Nachrichten aus. Und natürlich werden die Gäste aufgefordert, ein paar Worte an die versammelte Gemeinde zu richten.
Bei dieser Gelegenheit wird Paulus von Jesus gepredigt haben, von dem, was einige Jahre zuvor in Jerusalem passiert war, und von den jungen Gemeinden in Kleinasien.
Paulus war kein guter Prediger, das wissen wir. Einmal wird berichtet, dass Paulus in Troas so lange gepredigt hat, dass ein Zuhörer einschlief und drei Stockwerke tief aus dem Fenster fiel. Zum Glück ist ihm nichts passiert, sodass anschließend mit Erleichterung Abendmahl gefeiert werden konnte.
An diesem Sabbat aber in Philippi fallen die Worte des Paulus auf fruchtbaren Boden. Gott selbst öffnet einer Frau das Herz. Sie ist beeindruckt von dem, was Paulus zu sagen hat, lässt sich taufen und wird die erste Christin auf europäischem Boden.
Ihr Name ist Lydia. Sie ist eine wohlhabende, selbstbewusste Frau, die mit wertvollen Stoffen Handel treibt – eine Purpurwollenhändlerin. Als Nichtjüdin hat sie sich der Frauengruppe an der Synagoge am Fluss angeschlossen. Dort trafen sich wahrscheinlich diejenigen, die mit den einheimischen griechischen und römischen Kulten nichts anfangen konnten. Auch Lydia gehört zu diesen Frauen; sie stammt ursprünglich aus Kleinasien und hat dann den jüdischen Glauben für sich entdeckt. Als sie von Paulus die Geschichte von Jesus und seinen jüdischen Jüngern und Jüngerinnen hört, will sie dazugehören. Sie lässt sich mit ihrem ganzen Haus taufen.

II.
Liebe Gemeinde,
vielleicht haben auch Sie sich beim Hören dieser Missionsgeschichte gefragt, wie es heute um den christlichen Glauben in Europa bestellt ist und wie es in unserer Region aussieht.
Vor 3 Jahren hörte ich einen Vortrag über die Kirchenmitgliedschaft in der Region Hannover. Damals gehörten noch 45% einer der großen Kirchen an, heute sind es nur noch 42%. Besonders in den städtischen Milieus nimmt die Bindung an eine der Kirchen ab; das war in den Städten schon immer so und hat durch die Zeit der Corona-Einschränkungen noch zugenommen. Und, was die aktuellen Berichte über die Missbrauchsfälle in der Evangelischen Kirche für die Austritts­zahlen bedeuten, das ahnen wir nur. (Pause)
In meiner ostfriesischen Heimat war es in den 80er-Jahren üblich, dass über 70% der Bevölkerung zur evan­ge­lischen Kirche gehörten. Und ein Großteil der ev. Jugendlichen ließ sich konfirmieren. Davon sind wir hier in der Region Hannover weit entfernt.
Vor etwa 200 Jahren wurden in Deutschland und der Schweiz Missionsgesellschaften gegründet. Sie hatten das selbstbewusste Ziel, den evangelischen Glauben in Afrika und Asien zu verbreiten. Heute denken wir diese Mission anders, ja sogar andersherum. Unsere Pastorin Grace Daeli ist dafür ein gutes Beispiel. Sie kommt aus einer Kirche in Indonesien, die durch die Rheinische Mission gegründet wurde. Über ein Austauschprogramm der Vereinten Evangeli­schen Mission ist sie nun Pastorin hier in unserer Gemeinde. Dieser Austausch hat auch zum Ziel, dass wir stärker als bisher von den Erfahrungen der Kirchen in Afrika und Asien lernen. Anders als in Europa nimmt dort die Zahl der ChristInnen zu.
Und uns wird deutlich, dass eine Kirchengemeinde, die Jahr für Jahr die sinkenden Mitgliederzahlen sieht, eine Idee braucht, dem Gemeindeleben neue Impulse zu geben. Vieles ist in den letzten Jahren dazu schon angestoßen und ausprobiert worden. Doch wenn der allgemeine Trend so weitergeht, dann kann selbst eine kluge und gut organisierte Kirchengemeinde wenig ausrichten.
Doch wie findet man Ideen für neue Impulse? Ich glaube, dass sich der heutiger Predigttext als eine Anleitung lesen lässt, wie so etwas gelingen kann. Ich will das an einigen Punkten zeigen:
• Zunächst wird deutlich, dass Paulus kein Einzelkämpfer ist. Er arbeitet im Team. Zuerst mit Barnabas und dann mit Silas und Timotheus. Zwar klappt es nicht in jedem Team; mit Barnabas kommt es beispielsweise zum Bruch. Aber ein gutes Team ist Voraussetzung dafür, dass etwas gut gelingt. Denn alle Verantwortlichen in einer Gemeinde brauchen Menschen an ihrer Seite, die sie begleiten, mit Wohlwollen kritisieren, Fragen stellen, Hinweise geben, Ideen und Begabungen einbringen. Wenn etwas gut gelingt, steckt meistens ein Team dahinter, auch wenn es für die Öffentlichkeit so aussieht, als habe das eine Person alleine gemacht. Wie viele Haupt- und Ehrenamtliche es in unserer Gemeinde gibt, das haben wir vor zwei Wochen beim Ehrenamtsempfang gesehen. Lassen Sie sich also nicht täuschen davon, wenn einzelne Personen vorne stehen. Da haben vorher viele Hände mitgewirkt.

• Als zweiten Punkt möchte ich nennen, dass am Anfang eines neuen Impulses immer eine Vision stehen muss, keine kleine Vision, sondern eine große. Paulus hat die Vision, mit der Missionierung Europas zu beginnen. Welche große Vision haben wir?

Dazu ein Beispiel aus meiner Zeit in Anhalt:
Die Martinskirche in Bernburg brauchte damals ein neues Dach für 100.000 €. Eine kleine Vision und am Ende fehlte das Geld. Der Heilige Geist hat die Bernburger gewissermaßen daran gehindert, - wie auch bei Paulus – eine althergebrachte Idee zu verfolgen:
Paulus wollte in dem Gebiet, das er schon kannte, weiter missio­nieren. Die Bernburger Kirchengemeinde wollte bloß das Dach der altbewährten Kirche in Ordnung bringen. Beide scheiterten mit ihren Anliegen, weil die Vision zu klein war.

• Nun kommt drittens aber nach der Enttäuschung nicht sofort die rettende Idee. Auch Paulus und Silas nehmen mehrere Anläufe, die letztlich zu nichts führen. Sie streifen in Kleinasien umher ohne richtiges Ziel. Auch die Bernburger Martinsgemeinde wusste lange Zeit nicht so recht, was sie mit der Situation machen sollte. Es gab schon Überlegungen, die Martinskirche ganz aufzugeben.
Diese Zeit des Wartens, in der noch nichts klar ist, ist eine quälende Zeit. Aber sie gehört dazu. Wer rasche Erfolge will, der kann auch schnell scheitern.
Die Hannoversche lutherische Landeskirche z.B. hat vor zwei Jahren einen großen Zukunftsprozess gestartet. Mit viel Geld wurde eine Website eingerichtet, auf der Ideen gesammelt, Projekte vernetzt und Erneuerungsprozesse angestoßen werden sollten.
Die Gemeinden haben dieses digitale Angebot jedoch kaum genutzt. Für andere wurde es zum »Schaufenster für Eitelkeiten«, um ihre erfolgreichen Projekte darzustellen. Die Landessynode beschloss deshalb im Frühjahr, das Ganze noch einmal neu zu überarbeiten. Das mit viel Manpower gestartete Projekt war wohl ein Schnellschuss und an der Realität der Gemeinden vorbeigeplant.1

• Wenn aber viertens dann endlich eine brauchbare Vision da ist, kann es unerwartet Rückenwind geben: Paulus und Silas legen die Strecke von Troas nach Mazedonien in Rekordzeit zurück. Gott hat für ihre Seereise den richtigen Wind gegeben. Und auch beim Martinszentrum in Bernburg war es so. Am Anfang ein kaputtes Dach und zu wenig Geld. Dann aber die Idee, einen Kindergarten und eine Grundschule in die Kirche hinein und um sie herum zu bauen. Die Kirche kann weiterhin für Gottesdienste und Gemeindeveranstaltungen genutzt werden. Eine spezielle Glas-Konstruktion macht die Kirche zugleich zur Turnhalle und zum Werkraum. Für die Sanierung und Erweiterung der Kirche gab es 3 ½ Millionen Euro Fördergelder. Und als krönender Abschluss wurde dem Projekt der Architekturpreis des Landes Sachsen-Anhalt verliehen sowie der Deutsche Städtebaupreis. Ein Rückenwind Gottes ist hier unverkennbar.
• Fünftens: Paulus beginnt an keinem sehr aussichtsreichen Ort. Er geht nach Philippi, einer römische Kolonie. Fremde Götter gibt es dort, spezielle Weiheriten für die jungen Männer und eigene Bestattungsrituale. Hier von dem einen Gott zu predigen, zu taufen und in der Hoffnung auf den auferstandenen Christus zu beer­digen, das war kein leichtes Unterfangen. Und trotzdem sucht Paulus hier einen Anknüpfungspunkt.
Auch in unserem städtischen Milieu gibt es solche Anknüpfungspunkte. Es gibt viele Menschen, die schon von dem Gott Israels und von Jesus gehört haben. Menschen, die auf der Suche sind nach Orientierung in einer Welt, die sich immer schneller dreht, die immer mehr Erschöpfte zurücklässt. Menschen, die sich fragen, wo führt das eigentlich alles hin:
- die Krise der Demokratien,
- der neue Krieg der Systeme,
- die Erschöpfung unseres Planeten?
Unsere Botschaft ist, dass Gottes Gerechtigkeit eine bessere ist als die, die die Menschen zustande bringen: Nämlich, dass unsere Hoffnung nicht allein materiellen Reichtum umschließen kann. Dass wir für unser Menschsein andere Menschen brauchen, eine Gemeinschaft, die nicht von oben verordnet und zentral gesteuert wird, sondern eine, die von unten her wächst: »Kirche für andere« hat Bonhoeffer das genannt.
• Sechstens: Bei Paulus sind es die Frauen, die sich zuerst von der neuen Botschaft ansprechen lassen. Erfolgreiche Frauen am Rand der Gemeinde. Ich weiß nicht, ob das ein Erfolgsrezept ist, aber vielleicht ist einen Versuch wert. Unsere Arbeit konzentriert sich vielfach auf die Kerngemeinde. Und dabei übersehen wir, dass am Rande der Gemeinde auch Menschen sind, die manchmal nur darauf warten, angesprochen zu werden. Richtig ist es, Menschen zu unterstützen, die Hilfe brauchen. Aber ebenso wichtig ist es, Menschen zu gewinnen, die stark sind und in der Gemeinde mithelfen können – Männer wie Frauen. Ob aber Menschen zur Gemeinde Gottes finden, das liegt – damit wir nicht übermütig werden – immer noch an Gott. Denn er ist es, der das Herz der Frau aus Thyatira aufschließt.

• Siebtens und letztens: Nach der Taufe testet die Purpurwollenhändlerin Lydia Paulus und seine Begleiter. Sie lädt Paulus und seine Begleiter nämlich ein, bei ihr zu wohnen. Lydia ist jedoch eine Nichtjüdin. Paulus und seine Begleiter aber sind Juden und für sie ist es nicht ohne weiteres möglich, ihre Gastfreundschaft anzunehmen. Denn Lydia kocht vermutlich nicht koscher und sie hält sich auch sonst nicht an die Reinheitsgebote. Paulus muss sich überwinden, dieser Einladung zu folgen. Aber es muss sein, damit seine Botschaft glaubwürdig bleibt. Er hat ja Lydia und den anderen gesagt: Es ist nicht mehr wichtig, ob jemand Jude oder Grieche, Frau oder Mann oder sonst was ist. Alle sind eins in Christus. (Gal 3,27f; Röm 10,12; 1 Kor 12,13). Wenn man an Christus glaubt, gehört man dazu. Und zu dieser Botschaft muss Paulus jetzt stehen.
Auch wir, liebe Gemeinde, müssen bereit sein, unsere Verkündigung glaubwürdig zu leben: Nicht nur über Schutzkonzepte zu reden, sondern sie im Konfliktfall auch umzusetzen.

Liebe Gemeinde,
ich weiß, es ist etwas unmodern, Ideen für die Zukunft der Kirche aus einem mindestens 2.000 Jahre alten Buch herzuleiten. Und fremd ist wahrscheinlich auch der Gedanke der Schriftlesung (Ez 2,1-5.8-10; 3,1-3), dass ein Prophet von Gott den Auftrag bekommt, die Schriftrolle zu essen und dann zum Volk (Israel) zu sprechen.
Ich verstehe das so, dass uns das betriebswirtschaftliche Vokabular nicht wirklich weiterhilft. Wenn in den Leitbildern von ›Angeboten‹ der Kirche die Rede ist, wenn Gemeindeglieder als ›Kunden‹ gesehen werden, wenn von ›Mitgliederorientierung‹ und »Dienstleistungsqualität« gesprochen wird.
Ich verstehe Lesung und Predigttext so, dass wir das, was Gott will, verinnerlichen und darin eine Idee für das Neue suchen.

»Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus.« Amen.