Predigt von Lektorin Dr. Birgit Hoffmann zu Jeremia 20,7-11
Liebe Gemeinde,
L. wurde heute in unserer Gemeinde getauft. Und sie wird heute sieben Jahre alt.
Mich lässt das an meine eigene Kinder zurückdenken. Ich verbinde mit diesem Alter die Anfangszeit in der Schule. Schule - das ist ein Einschnitt: Vorher die noch recht behütete Kindergartenzeit, jetzt die größere Welt. Es ist das Alter, in dem Kinder einen Sprung in eine neue Selbständigkeit machen: Andere Kinder, andere Einflüsse, andere Umgangsformen prägen plötzlich mit. Und mehr Selbstbehauptung ist gefragt. Für uns Eltern heißt es, wieder einmal loszulassen und darauf zu vertrauen, dass die Kinder gut aufgestellt sind. Dass wir Ihnen Fähigkeiten mitgeben, in der Welt zu bestehen. Dass sie eine eigene Meinung entwickeln und sie auch verteidigen. Dass sie kritisch sind und bleiben. Und wir hoffen, dass wir ihnen im Elternhaus Werte vermitteln konnten und weiterhin können, obwohl sie in der Welt „draußen“ durchaus infrage gestellt werden.
Ganz abgesehen davon merken wir selber, wie unpopulär es geworden ist, sich für Gerechtigkeit in der Welt einzutreten, für Rechte von Minderheiten und für Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, für Demokratie, für ein Land, das von einem großen Nachbarn überfallen wird. Der heutige Predigttext zitiert Worte des Propheten Jeremia. Der steht selber in einer Konfliktsituation zwischen eigenem moralischem Anspruch und der politischen und gesellschaftlichen Realität. Er bekommt von Gott den Auftrag, an Moral und Werte zu erinnern und das Volk Israel vor drohenden Gefahren zu warnen. Ihm geht es wie vielen Menschen, die unbequeme Botschaften übermitteln: Er wird bedroht und ausgegrenzt.
Ich lese den heutige Predigttext in der Übersetzung der Basisbibel.
Er steht bei Jeremia, Kapitel 20, die Verse 7 - 11.
Jeremia klagt:
„Herr, du hast mich überredet
und ich habe mich überreden lassen.
Du bist für mich zu stark geworden und hast gewonnen.
So bin ich jeden Tag zum Gespött geworden,
alle lachen mich aus.
Immer wenn ich reden will, schreie ich es heraus.
»Gewalt und Zerstörung!« muss ich rufen.
Das Wort des Herrn ist mir eine Last geworden.
Den ganzen Tag bringt es mir nur Hohn und Spott.
Ich fasste für mich den Entschluss:
Ich denke einfach nicht mehr an ihn.
Nie wieder werde ich in seinem Namen reden.
Doch da brannte es in meinem Herzen wie Feuer,
eingeschlossen in meinem Inneren.
Ich versuchte es auszuhalten, schaffte es aber nicht.
Ich hörte das ganze üble Gerede:
»Er verbreitet um sich herum nur Schrecken!
Zeigt ihn an!« – »Ja, lasst ihn uns anzeigen!«
Selbst alle, die mir nahestehen,
warten nur, dass ich stürze:
»Vielleicht schaffen wir es, ihn vorzuführen.
Dann können wir ihn packen und uns rächen.«
Doch der Herr ist bei mir.
Er beschützt mich wie ein starker Held.“
Liebe Gemeinde,
Ich fass mal meinen ersten Eindruck zusammen, als ich den Text zum ersten Mal gelesen habe: Was für ein starkes Statement! Zuerst hadert der Prophet mit der Aufgabe, zu der er überredet wurde. Er klagt bitter über die negativen Folgen, die sich daraus für ihn ergeben. Dann beschreibt er seine Flucht nach vorne, indem er versucht seinen Auftraggeber, Gott, zu vergessen. Das hält er auch nicht aus. Er setzt den Auftrag fort und wird noch mehr bedroht. Aber er triumphiert und ruft aus: „Der Herr ist bei mir. Er beschützt mich.“ Das ist Gottvertrauen!
Bevor wir genauer in die Ereignisse einsteigen, müssen wir aber erst einmal an den Anfang schauen, wie es überhaupt dazu gekommen ist Wir sind im 6. Jahrhundert vor Christus. Jeremia ist der Sohn eines Priesters aus der Gegend nördlich von Jerusalem. Es ist die Zeit des ersten Tempels und vor dem babylonischen Exil. Das Volk Israel ist längst im „Gelobten Land“ angekommen. Alles ist etabliert. Für die Mehrheit ist es eine „heile Welt“. Da erscheint am Horizont eine Bedrohung, die keiner wahrnehmen will: Es ist die Konkurrenz der Großmächte Assyrien und Babylonien. Hochaufgerüstet streiten sie um die Vormacht in ihrer bekannten Welt. Wichtig dafür ist dieser fruchtbare Landstrich zwischen Mittelmeer und der judäischen Wüste, in dem das Volk Israel lebt. Wer ihn beherrscht, beherrscht auch die Handelswege nach Ägypten. Das weckt Begehrlichkeiten, die die Großmächte militärisch durchsetzen werden. Wenn ein kleines Land nicht kooperiert, wird es besetzt. Da wird nicht lang verhandelt, sondern Fakten geschaffen. Das Volk Israel wägt sich noch in unbeschwerter Sicherheit.
In Jerusalem steht der Tempel ihres Gottes. Die Priesterschaft sorgt für Gottesdienste und Opfer. Die religiöse Verantwortung ist organisiert und delegiert. Auf der weltlichen Seite geht das Leben seinen Gang. Aber die Erinnerung an den Bund mit Gott, an das Einhalten der Gebote ist in den Hintergrund getreten. Religiösen Traditionen im Privaten werden vernachlässigt. Die Verantwortung für Minderheiten und sozial Benachteiligte ist ausgeblendet. Gott sieht, was im Argen ist …und beruft einen Propheten.
Wie das passiert, steht am Anfang des Buches: Er sucht Jeremia aus und spricht zu ihm: „Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, (…) und bestellte dich zum Propheten für die Völker.“ Jeremia traut es sich nicht zu: „Ach, HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.“ Gott antwortet: „Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete.“ Und weiter spricht Gott Mut zu: „Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten.“
Jeremia lässt sich überreden. Er nimmt den Auftrag an, der sich als schwierig und undankbar erweisen wird. Er soll die Israeliten vor der drohenden Gefahren warnen und an ihre Verpflichtungen aus dem Bund mit Gott erinnern. Das Äußern von Kritik, der Hinweis auf Missstände und die Warnung vor kommenden Gefahren löst selten Jubel aus, weder heute noch damals. Lieber spielt man Probleme runter. Wahlen gewinnt man auch nicht mit Pessimismus. In früheren Zeiten war es durchaus üblich, die Überbringer schlechter Nachrichten hinzurichten, als könne man dadurch die Umstände aus der Welt schaffen. Heute macht man daraus „Fake news“ oder schafft eine Behörde ab.
Anlass für die Klage, die unser Predigttext ist, waren die Ereignisse im Tempel von Jerusalem. Jeremia hatte schon vorher immer wieder gemahnt. Er hat immer wieder an den Bund zwischen Gott und seinem Volk erinnert, an das Einhalten der Gebote, an die Fürsorge für Benachteiligte in der Gesellschaft. Es hat ihm nur Spott und höhnische Bemerkungen eingebracht.
Das ist nicht anderes, als wenn heute unbequeme Redner oder Rednerinnen auf öffentlichen Veranstaltungen niedergebrüllt werden. Jeremia geht schließlich in das Zentrum der religiösen Macht: in den Vorhof des Tempels. Was dort passiert, erreicht viele Menschen und erregt Aufsehen. Das weiß er. 600 Jahre später im wieder aufgebauten Tempel, wird Jesus die Geldwechsler aus den Vorräumen der Tempels heraustreiben. Beide Male geht es darum, dass der Anspruch Gottes an uns Menschen nicht durch andere Ansprüche ersetzt werden darf. Jeremia steht im Vorhof des Tempels und verkündet, dass Gott über das ganze Land Unheil bringen wird. Das erregt Aufruhr und Empörung. Paschchur, Priester und oberster Aufseher des Tempels eilt herbei und prügelt auf Jeremia ein. Vermutlich hat er nicht selber Hand angelegt, sondern hat prügeln lassen. Nach der Gewaltorgie veranlasst er, dass Jeremia über Nacht gefesselt an einen Pranger gestellt wird. Es ist eine tiefe Demütigung und Zurschaustellung des Propheten.
Jeremia brennen die Worte Gottes auf der Seele. Kaum, dass er am nächsten Tag aus dem Pranger herausgelassen wird, verkündet er Paschchur erneut die Gewalt und Zerstörung an, die über Jerusalem und das ganze Land kommen wird. Und er verkündet, dass Paschchur nach Babel in die Gefangenschaft kommen und dort sterben wird. Daran schließt sich die Klage aus unserem Predigttextes an: Jeremia reflektiert, was diese Bedrohungen mit ihm machen. Es ist keine angenehme Aufgabe, ein Prophet Gottes zu sein. Es zerreißt ihn, dass seine Warnungen kein Gehör finden und ihm nur Hohn, Spott und körperliche Gewalt einbringen. Für Jeremia wird es zum inneren Konflikt: Er kann nicht anders: Er muss vor den drohenden Gefahren immer wieder warnen. Zugleich ist äußere Gewalterfahrung unerträglich. Er flieht in die Notlösung und will Gott und seine Aufgabe, die ihm übertragen ist, vergessen. Er will nicht mehr der Moralapostel und der Bedenkenträger sein.
Wir kennen solche inneren Konfliktvermeidungsstrategien selber: Wie oft passiert es uns, dass wir Aufgaben „übersehen“, weil es zu beschwerlich ist, sich um eine Sache zu kümmern oder mitanzupacken? Weil es Zeit und Kraft kostet. Wie oft äußern wir uns nicht, wenn jemand eine diffamierende oder ausgrenzende Aussage macht, weil es so mühsam ist, dagegen zu argumentieren? Es macht einen zur Außenseiterin, wenn man sich gegen den Populismus einer Gruppe stellt. Das ist keine schöne Position und macht angreifbar.
Jeremia versucht die Vermeidungsstrategie. Er will Gott und damit seine innere Stimme vergessen. Das Leben ist viel einfacher, wenn man sich über die Konsequenzen des eigenen Handelns keine Gedanken macht. Jeremia merkt allerdings, dass er es nicht kann. Gottes Wort in ihm ist zu stark. Er kann es nicht ignorieren: „Es brennt ihm wie Feuer im Herzen“. Anders als Jona, der über das Meer vor seinem Auftrag zu fliehen versucht und zunächst im Walfisch landet, setzt Jeremia seine Aufgabe fort. Er weiß, dass seine Umgebung, seine Kritiker nur darauf warten, ihn vorzuführen. Er klagt es Gott: „Ich hörte das ganze üble Gerede: Er verbreitet um sich herum nur Schrecken!“ Er lässt nicht nach, immer wieder vor der drohenden Katastrophe zu warnen. Er ahnt, was passieren wird: „Selbst alle, die mir nahestehen, warten nur, dass ich stürze: »Vielleicht schaffen wir es, ihn vorzuführen. Dann können wir ihn packen und uns rächen.«
Liebe Gemeinde,
Erinnert Sie das an etwas? Es ist nicht viel anders, als das, was wir vor laufender Kamera vor drei Wochen erlebt haben: Eine Regierungschef eines kleinen Landes, das mit Krieg überzogen wird, bittet seinen vermeintlichen Verbündeten um Unterstützung und wird mit Gespött vor der versammelten Weltpresse überzogen. Wer die Macht hat und keinen über sich glaubt, meint die eigenen Vorstellungen von Recht und Gesetz durchsetzen zu können. Jeremia kann das Dilemma zwischen der Botschaft Gottes und der weltlichen Deutungshoheit nicht auflösen. An diesem eigentlich frustrierenden Punkt tritt sein tiefes Gottvertrauen zutage und er ruft aus: „Doch der Herr ist bei mir. Er beschützt mich wie ein starker Held.“ Er kehrt in seinem Klagegebet zurück an den Anfang seiner Berufung, als Gott ihm zusagt, dass er stets bei ihm sein wird. Das ist die feste Größe, die bleibt. Daraus schöpft Jeremia auch jetzt Zuversicht, weiter zu handeln. Er bleibt sich und Gott treu.
Es ist die Zusage, die wir alle, mit der Taufe erhalten haben: „Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten.“ Oder wie es L.´s Taufspruch sagt: "Ich sende einen Engel, der dir vorangeht, und ich vertreibe alle deine Feinde.“ 2. Mose 33,2
Eins aber können wir am Schluss auch noch für uns mitnehmen: Wir dürfen klagen, so wie Jeremia in seinen fünf großen Klagen. Wir dürfen uns über die Belastungen beklagen, die uns Gott in unserem Leben zumutet. Auch ein Klagegebet ist ein Gebet. Wer einmal in Not war und das Ohr von jemanden bekommen hat, um einfach nur das eigene Leid zu klagen, merkt, wie sehr das erleichtern kann. Wie gut ist es, einen Ansprechpartner und einen Raum zu haben, um aus tiefstem Herzen zu klagen. Es tröstet, wenn man sich in der Hand des Gottes weiß, der ein Ohr für unsere Klage hat und ein Auge, das unsere Nöte sieht.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.